sondern alles a priori erkant werden soll, wo alles noth- wendig ist, so erfodert das Princip der Verknüpfung All- gemeinheit und Nothwendigkeit, mithin völlige Gewiß- heit, widrigenfals gar keine Leitung auf Wahrheit ange- troffen wird. Daher ist es ungereimt, in der reinen Ma- thematik zu meinen, man muß wissen, oder sich alles Urtheilens enthalten. Eben so ist es mit den Grundsätzen der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf blosse Mei- nung, daß etwas erlaubt sey, eine Handlung wagen darf, sondern dieses wissen muß.
Im transscendentalen Gebrauche der Vernunft ist dagegen Meinen freilich zu wenig, aber Wissen auch zu viel. In blos speculativer Absicht können wir also hier gar nicht urtheilen; weil subiective Gründe des Vorwahr- haltens, wie die, so das Glauben bewirken können, bey speculativen Fragen keinen Beifall verdienen, da sie sich frey von aller empirischen Beihülfe nicht halten, noch in gleichem Maasse andern mittheilen lassen.
Es kan aber überall blos in practischer Beziehung das theoretisch unzureichende Vorwahrhalten Glauben ge- nant werden. Diese practische Absicht ist nun entweder die der Geschicklichkeit, oder der Sittlichkeit, die erste zu beliebigen und zufälligen, die zweite aber zu schlechthin nothwendigen Zwecken.
Wenn einmal ein Zweck vorgesezt ist, so sind die Bedingungen der Erreichung desselben hypothetischnothwen- dig. Diese Nothwendigkeit ist subiectiv, aber doch nur
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Vom Meinen, Wiſſen und Glauben.
ſondern alles a priori erkant werden ſoll, wo alles noth- wendig iſt, ſo erfodert das Princip der Verknuͤpfung All- gemeinheit und Nothwendigkeit, mithin voͤllige Gewiß- heit, widrigenfals gar keine Leitung auf Wahrheit ange- troffen wird. Daher iſt es ungereimt, in der reinen Ma- thematik zu meinen, man muß wiſſen, oder ſich alles Urtheilens enthalten. Eben ſo iſt es mit den Grundſaͤtzen der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf bloſſe Mei- nung, daß etwas erlaubt ſey, eine Handlung wagen darf, ſondern dieſes wiſſen muß.
Im transſcendentalen Gebrauche der Vernunft iſt dagegen Meinen freilich zu wenig, aber Wiſſen auch zu viel. In blos ſpeculativer Abſicht koͤnnen wir alſo hier gar nicht urtheilen; weil ſubiective Gruͤnde des Vorwahr- haltens, wie die, ſo das Glauben bewirken koͤnnen, bey ſpeculativen Fragen keinen Beifall verdienen, da ſie ſich frey von aller empiriſchen Beihuͤlfe nicht halten, noch in gleichem Maaſſe andern mittheilen laſſen.
Es kan aber uͤberall blos in practiſcher Beziehung das theoretiſch unzureichende Vorwahrhalten Glauben ge- nant werden. Dieſe practiſche Abſicht iſt nun entweder die der Geſchicklichkeit, oder der Sittlichkeit, die erſte zu beliebigen und zufaͤlligen, die zweite aber zu ſchlechthin nothwendigen Zwecken.
Wenn einmal ein Zweck vorgeſezt iſt, ſo ſind die Bedingungen der Erreichung deſſelben hypothetiſchnothwen- dig. Dieſe Nothwendigkeit iſt ſubiectiv, aber doch nur
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Vom Meinen, Wiſſen und Glauben.
ſondern alles a priori erkant werden ſoll, wo alles noth-
wendig iſt, ſo erfodert das Princip der Verknuͤpfung All-
gemeinheit und Nothwendigkeit, mithin voͤllige Gewiß-
heit, widrigenfals gar keine Leitung auf Wahrheit ange-
troffen wird. Daher iſt es ungereimt, in der reinen Ma-
thematik zu meinen, man muß wiſſen, oder ſich alles
Urtheilens enthalten. Eben ſo iſt es mit den Grundſaͤtzen
der Sittlichkeit bewandt, da man nicht auf bloſſe Mei-
nung, daß etwas erlaubt ſey, eine Handlung wagen
darf, ſondern dieſes wiſſen muß.
Im transſcendentalen Gebrauche der Vernunft iſt
dagegen Meinen freilich zu wenig, aber Wiſſen auch zu
viel. In blos ſpeculativer Abſicht koͤnnen wir alſo hier
gar nicht urtheilen; weil ſubiective Gruͤnde des Vorwahr-
haltens, wie die, ſo das Glauben bewirken koͤnnen, bey
ſpeculativen Fragen keinen Beifall verdienen, da ſie ſich
frey von aller empiriſchen Beihuͤlfe nicht halten, noch in
gleichem Maaſſe andern mittheilen laſſen.
Es kan aber uͤberall blos in practiſcher Beziehung
das theoretiſch unzureichende Vorwahrhalten Glauben ge-
nant werden. Dieſe practiſche Abſicht iſt nun entweder
die der Geſchicklichkeit, oder der Sittlichkeit, die erſte
zu beliebigen und zufaͤlligen, die zweite aber zu ſchlechthin
nothwendigen Zwecken.
Wenn einmal ein Zweck vorgeſezt iſt, ſo ſind die
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dig. Dieſe Nothwendigkeit iſt ſubiectiv, aber doch nur
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 823. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/853>, abgerufen am 23.11.2024.
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