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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Vom Ideal des höchsten Guts.

Ich nehme an[:] daß es wirklich reine moralische Ge-
setze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empi-
rische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit) das Thun
und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freyheit eines vernünf-
tigen Wesens überhaupt, bestimmen und daß diese Gesetze
Schlechterdings (nicht blos hypothetisch unter Vorausse-
tzung anderer empirischen Zwecke) gebieten und also in
aller Absicht nothwendig seyn. Diesen Satz kan ich mit
Recht voraussetzen, nicht allein, indem ich mich auf die
Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das
sittliche Urtheil eines ieden Menschen berufe, wenn er sich
ein dergleichen Gesetz deutlich denken will.

Die reine Vernunft enthält also, zwar nicht in ih-
rem speculativen, aber doch in einem gewissen practischen,
nemlich dem moralischen Gebrauche, Principien der Mög-
lichkeit der Erfahrung,
nemlich solcher Handlungen, die
den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des
Menschen anzutreffen seyn könten. Denn, da sie gebie-
tet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch gesche-
hen können und es muß also eine besondere Art von syste-
matischer Einheit, nemlich die moralische, möglich seyn,
indessen daß die systematische Natureinheit nach specula-
tiven Principien der Vernunft
nicht bewiesen werden
konte, weil die Vernunft zwar in Ansehung der Freiheit
überhaupt, aber nicht in Ansehung der gesamten Natur
Caussalität hat und moralische Vernunftprincipien zwar
freie Handlungen, aber nicht Naturgesetze hervorbringen

kön-
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Vom Ideal des hoͤchſten Guts.

Ich nehme an[:] daß es wirklich reine moraliſche Ge-
ſetze gebe, die voͤllig a priori (ohne Ruͤckſicht auf empi-
riſche Bewegungsgruͤnde, d. i. Gluͤckſeligkeit) das Thun
und Laſſen, d. i. den Gebrauch der Freyheit eines vernuͤnf-
tigen Weſens uͤberhaupt, beſtimmen und daß dieſe Geſetze
Schlechterdings (nicht blos hypothetiſch unter Vorausſe-
tzung anderer empiriſchen Zwecke) gebieten und alſo in
aller Abſicht nothwendig ſeyn. Dieſen Satz kan ich mit
Recht vorausſetzen, nicht allein, indem ich mich auf die
Beweiſe der aufgeklaͤrteſten Moraliſten, ſondern auf das
ſittliche Urtheil eines ieden Menſchen berufe, wenn er ſich
ein dergleichen Geſetz deutlich denken will.

Die reine Vernunft enthaͤlt alſo, zwar nicht in ih-
rem ſpeculativen, aber doch in einem gewiſſen practiſchen,
nemlich dem moraliſchen Gebrauche, Principien der Moͤg-
lichkeit der Erfahrung,
nemlich ſolcher Handlungen, die
den ſittlichen Vorſchriften gemaͤß in der Geſchichte des
Menſchen anzutreffen ſeyn koͤnten. Denn, da ſie gebie-
tet, daß ſolche geſchehen ſollen, ſo muͤſſen ſie auch geſche-
hen koͤnnen und es muß alſo eine beſondere Art von ſyſte-
matiſcher Einheit, nemlich die moraliſche, moͤglich ſeyn,
indeſſen daß die ſyſtematiſche Natureinheit nach ſpecula-
tiven Principien der Vernunft
nicht bewieſen werden
konte, weil die Vernunft zwar in Anſehung der Freiheit
uͤberhaupt, aber nicht in Anſehung der geſamten Natur
Cauſſalitaͤt hat und moraliſche Vernunftprincipien zwar
freie Handlungen, aber nicht Naturgeſetze hervorbringen

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[807/0837] Vom Ideal des hoͤchſten Guts. Ich nehme an: daß es wirklich reine moraliſche Ge- ſetze gebe, die voͤllig a priori (ohne Ruͤckſicht auf empi- riſche Bewegungsgruͤnde, d. i. Gluͤckſeligkeit) das Thun und Laſſen, d. i. den Gebrauch der Freyheit eines vernuͤnf- tigen Weſens uͤberhaupt, beſtimmen und daß dieſe Geſetze Schlechterdings (nicht blos hypothetiſch unter Vorausſe- tzung anderer empiriſchen Zwecke) gebieten und alſo in aller Abſicht nothwendig ſeyn. Dieſen Satz kan ich mit Recht vorausſetzen, nicht allein, indem ich mich auf die Beweiſe der aufgeklaͤrteſten Moraliſten, ſondern auf das ſittliche Urtheil eines ieden Menſchen berufe, wenn er ſich ein dergleichen Geſetz deutlich denken will. Die reine Vernunft enthaͤlt alſo, zwar nicht in ih- rem ſpeculativen, aber doch in einem gewiſſen practiſchen, nemlich dem moraliſchen Gebrauche, Principien der Moͤg- lichkeit der Erfahrung, nemlich ſolcher Handlungen, die den ſittlichen Vorſchriften gemaͤß in der Geſchichte des Menſchen anzutreffen ſeyn koͤnten. Denn, da ſie gebie- tet, daß ſolche geſchehen ſollen, ſo muͤſſen ſie auch geſche- hen koͤnnen und es muß alſo eine beſondere Art von ſyſte- matiſcher Einheit, nemlich die moraliſche, moͤglich ſeyn, indeſſen daß die ſyſtematiſche Natureinheit nach ſpecula- tiven Principien der Vernunft nicht bewieſen werden konte, weil die Vernunft zwar in Anſehung der Freiheit uͤberhaupt, aber nicht in Anſehung der geſamten Natur Cauſſalitaͤt hat und moraliſche Vernunftprincipien zwar freie Handlungen, aber nicht Naturgeſetze hervorbringen koͤn- E e e 4

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 807. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/837>, abgerufen am 23.11.2024.