Die Vernunft kan aber diese systematische Einheit nicht anders denken, als daß sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand giebt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kan, denn Erfahrung giebt niemals ein Beispiel vollkommener systematischer Einheit. Dieses Vernunftwe- sen (ens rationis ratiocinatae) ist nun zwar eine blosse Idee und wird also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas Wirkliches angenommen, sondern nur problematisch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine Verstandes- begriffe erreichen können), um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so anzusehen, als ob sie in diesem Ver- nunftwesen ihren Grund hätten, lediglich aber in der Ab- sicht, um darauf die systematische Einheit zu gründen, die der Vernunft unentbehrlich, der empirischen Verstandeserkent- niß aber auf alle Weise beförderlich und ihr gleichwol nie- mals hinderlich seyn kan.
Man verkennet sogleich die Bedeutung dieser Idee, wenn man sie vor die Behauptung, oder auch nur die Voraussetzung einer wirklichen Sache hält, welcher man den Grund der systematischen Weltverfassung zuzuschreiben gedächte; vielmehr läßt man es gänzlich unausgemacht, was der, unseren Begriffen sich entziehende Grund dersel- ben an sich vor Beschaffenheit habe und setzet sich nur eine Idee zum Gesichtspuncte, aus welchem einzig und allein man iene, der Vernunft so wesentliche und dem Verstan- de so heilsame, Einheit verbreiten kan, mit einem Worte:
dieses
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
Die Vernunft kan aber dieſe ſyſtematiſche Einheit nicht anders denken, als daß ſie ihrer Idee zugleich einen Gegenſtand giebt, der aber durch keine Erfahrung gegeben werden kan, denn Erfahrung giebt niemals ein Beiſpiel vollkommener ſyſtematiſcher Einheit. Dieſes Vernunftwe- ſen (ens rationis ratiocinatæ) iſt nun zwar eine bloſſe Idee und wird alſo nicht ſchlechthin und an ſich ſelbſt als etwas Wirkliches angenommen, ſondern nur problematiſch zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine Verſtandes- begriffe erreichen koͤnnen), um alle Verknuͤpfung der Dinge der Sinnenwelt ſo anzuſehen, als ob ſie in dieſem Ver- nunftweſen ihren Grund haͤtten, lediglich aber in der Ab- ſicht, um darauf die ſyſtematiſche Einheit zu gruͤnden, die der Vernunft unentbehrlich, der empiriſchen Verſtandeserkent- niß aber auf alle Weiſe befoͤrderlich und ihr gleichwol nie- mals hinderlich ſeyn kan.
Man verkennet ſogleich die Bedeutung dieſer Idee, wenn man ſie vor die Behauptung, oder auch nur die Vorausſetzung einer wirklichen Sache haͤlt, welcher man den Grund der ſyſtematiſchen Weltverfaſſung zuzuſchreiben gedaͤchte; vielmehr laͤßt man es gaͤnzlich unausgemacht, was der, unſeren Begriffen ſich entziehende Grund derſel- ben an ſich vor Beſchaffenheit habe und ſetzet ſich nur eine Idee zum Geſichtspuncte, aus welchem einzig und allein man iene, der Vernunft ſo weſentliche und dem Verſtan- de ſo heilſame, Einheit verbreiten kan, mit einem Worte:
dieſes
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VII. Abſch. Critik aller ſpeculativen Theologie.
Die Vernunft kan aber dieſe ſyſtematiſche Einheit
nicht anders denken, als daß ſie ihrer Idee zugleich einen
Gegenſtand giebt, der aber durch keine Erfahrung gegeben
werden kan, denn Erfahrung giebt niemals ein Beiſpiel
vollkommener ſyſtematiſcher Einheit. Dieſes Vernunftwe-
ſen (ens rationis ratiocinatæ) iſt nun zwar eine bloſſe
Idee und wird alſo nicht ſchlechthin und an ſich ſelbſt als
etwas Wirkliches angenommen, ſondern nur problematiſch
zum Grunde gelegt (weil wir es durch keine Verſtandes-
begriffe erreichen koͤnnen), um alle Verknuͤpfung der Dinge
der Sinnenwelt ſo anzuſehen, als ob ſie in dieſem Ver-
nunftweſen ihren Grund haͤtten, lediglich aber in der Ab-
ſicht, um darauf die ſyſtematiſche Einheit zu gruͤnden, die der
Vernunft unentbehrlich, der empiriſchen Verſtandeserkent-
niß aber auf alle Weiſe befoͤrderlich und ihr gleichwol nie-
mals hinderlich ſeyn kan.
Man verkennet ſogleich die Bedeutung dieſer Idee,
wenn man ſie vor die Behauptung, oder auch nur die
Vorausſetzung einer wirklichen Sache haͤlt, welcher man
den Grund der ſyſtematiſchen Weltverfaſſung zuzuſchreiben
gedaͤchte; vielmehr laͤßt man es gaͤnzlich unausgemacht,
was der, unſeren Begriffen ſich entziehende Grund derſel-
ben an ſich vor Beſchaffenheit habe und ſetzet ſich nur eine
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/711>, abgerufen am 23.11.2024.
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