Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
Hiesse es aber: die Welt ist entweder unendlich, oder end-
lich (nichtunendlich) so könten beide falsch seyn. Denn
ich sehe alsdenn die Welt, als an sich selbst, ihrer Grösse
nach bestimt an, indem ich in dem Gegensatz nicht blos
die Unendlichkeit aufhebe und, mit ihr, vielleicht ihre
ganze abgesonderte Existenz, sondern eine Bestimmung zur
Welt, als einem an sich selbst wirklichen Dinge, hinzusetze,
welches eben so wol fasch seyn kan, wenn nemlich die
Welt gar nicht als ein Ding an sich, mithin auch nicht
ihrer Grösse nach, weder als unendlich, noch als endlich
gegeben seyn solte. Man erlaube mir: daß ich derglei-
chen Entgegensetzung die dialectische, die des Widerspruchs
aber, die analytische Opposition nennen darf. Also
können von zwey dialectisch einander entgegengesezten Ur-
theilen alle beide falsch seyn, darum, weil eines dem an-
dern nicht blos widerspricht, sondern etwas mehr sagt,
als zum Widerspruche erfoderlich ist.

Wenn man die zwey Sätze: die Welt ist der Grösse
nach unendlich, die Welt ist ihrer Grösse nach endlich, als
einander contradictorisch entgegengesetzte ansieht, so nimt
man an, daß die Welt (die ganze Reihe der Erscheinun-
gen) ein Ding an sich selbst sey. Denn sie bleibt, ich
mag den unendlichen oder endlichen Regressus in der Reihe
ihrer Erscheinungen aufheben. Nehme ich aber diese Vor-
aussetzung, oder diesen transscendentalen Schein weg, und
läugne, daß sie ein Ding an sich selbst sey, so verwandelt

sich

Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
Hieſſe es aber: die Welt iſt entweder unendlich, oder end-
lich (nichtunendlich) ſo koͤnten beide falſch ſeyn. Denn
ich ſehe alsdenn die Welt, als an ſich ſelbſt, ihrer Groͤſſe
nach beſtimt an, indem ich in dem Gegenſatz nicht blos
die Unendlichkeit aufhebe und, mit ihr, vielleicht ihre
ganze abgeſonderte Exiſtenz, ſondern eine Beſtimmung zur
Welt, als einem an ſich ſelbſt wirklichen Dinge, hinzuſetze,
welches eben ſo wol faſch ſeyn kan, wenn nemlich die
Welt gar nicht als ein Ding an ſich, mithin auch nicht
ihrer Groͤſſe nach, weder als unendlich, noch als endlich
gegeben ſeyn ſolte. Man erlaube mir: daß ich derglei-
chen Entgegenſetzung die dialectiſche, die des Widerſpruchs
aber, die analytiſche Oppoſition nennen darf. Alſo
koͤnnen von zwey dialectiſch einander entgegengeſezten Ur-
theilen alle beide falſch ſeyn, darum, weil eines dem an-
dern nicht blos widerſpricht, ſondern etwas mehr ſagt,
als zum Widerſpruche erfoderlich iſt.

Wenn man die zwey Saͤtze: die Welt iſt der Groͤſſe
nach unendlich, die Welt iſt ihrer Groͤſſe nach endlich, als
einander contradictoriſch entgegengeſetzte anſieht, ſo nimt
man an, daß die Welt (die ganze Reihe der Erſcheinun-
gen) ein Ding an ſich ſelbſt ſey. Denn ſie bleibt, ich
mag den unendlichen oder endlichen Regreſſus in der Reihe
ihrer Erſcheinungen aufheben. Nehme ich aber dieſe Vor-
ausſetzung, oder dieſen transſcendentalen Schein weg, und
laͤugne, daß ſie ein Ding an ſich ſelbſt ſey, ſo verwandelt

ſich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p><pb facs="#f0534" n="504"/><fw place="top" type="header">Elementarl. <hi rendition="#aq">II.</hi> Th. <hi rendition="#aq">II.</hi> Abth. <hi rendition="#aq">II.</hi> Buch. <hi rendition="#aq">II.</hi> Haupt&#x017F;t.</fw><lb/>
Hie&#x017F;&#x017F;e es aber: die Welt i&#x017F;t entweder unendlich, oder end-<lb/>
lich (nichtunendlich) &#x017F;o ko&#x0364;nten beide fal&#x017F;ch &#x017F;eyn. Denn<lb/>
ich &#x017F;ehe alsdenn die Welt, als an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, ihrer Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nach be&#x017F;timt an, indem ich in dem Gegen&#x017F;atz nicht blos<lb/>
die Unendlichkeit aufhebe und, mit ihr, vielleicht ihre<lb/>
ganze abge&#x017F;onderte Exi&#x017F;tenz, &#x017F;ondern eine Be&#x017F;timmung zur<lb/>
Welt, als einem an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wirklichen Dinge, hinzu&#x017F;etze,<lb/>
welches eben &#x017F;o wol fa&#x017F;ch &#x017F;eyn kan, wenn nemlich die<lb/>
Welt gar nicht als ein <hi rendition="#fr">Ding an &#x017F;ich</hi>, mithin auch nicht<lb/>
ihrer Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e nach, weder als unendlich, noch als endlich<lb/>
gegeben &#x017F;eyn &#x017F;olte. Man erlaube mir: daß ich derglei-<lb/>
chen Entgegen&#x017F;etzung die dialecti&#x017F;che, die des Wider&#x017F;pruchs<lb/>
aber, die analyti&#x017F;che Oppo&#x017F;ition nennen darf. Al&#x017F;o<lb/>
ko&#x0364;nnen von zwey dialecti&#x017F;ch einander entgegenge&#x017F;ezten Ur-<lb/>
theilen alle beide fal&#x017F;ch &#x017F;eyn, darum, weil eines dem an-<lb/>
dern nicht blos wider&#x017F;pricht, &#x017F;ondern etwas mehr &#x017F;agt,<lb/>
als zum Wider&#x017F;pruche erfoderlich i&#x017F;t.</p><lb/>
                      <p>Wenn man die zwey Sa&#x0364;tze: die Welt i&#x017F;t der Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nach unendlich, die Welt i&#x017F;t ihrer Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e nach endlich, als<lb/>
einander contradictori&#x017F;ch entgegenge&#x017F;etzte an&#x017F;ieht, &#x017F;o nimt<lb/>
man an, daß die Welt (die ganze Reihe der Er&#x017F;cheinun-<lb/>
gen) ein Ding an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ey. Denn &#x017F;ie bleibt, ich<lb/>
mag den unendlichen oder endlichen Regre&#x017F;&#x017F;us in der Reihe<lb/>
ihrer Er&#x017F;cheinungen aufheben. Nehme ich aber die&#x017F;e Vor-<lb/>
aus&#x017F;etzung, oder die&#x017F;en trans&#x017F;cendentalen Schein weg, und<lb/>
la&#x0364;ugne, daß &#x017F;ie ein Ding an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ey, &#x017F;o verwandelt<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[504/0534] Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt. Hieſſe es aber: die Welt iſt entweder unendlich, oder end- lich (nichtunendlich) ſo koͤnten beide falſch ſeyn. Denn ich ſehe alsdenn die Welt, als an ſich ſelbſt, ihrer Groͤſſe nach beſtimt an, indem ich in dem Gegenſatz nicht blos die Unendlichkeit aufhebe und, mit ihr, vielleicht ihre ganze abgeſonderte Exiſtenz, ſondern eine Beſtimmung zur Welt, als einem an ſich ſelbſt wirklichen Dinge, hinzuſetze, welches eben ſo wol faſch ſeyn kan, wenn nemlich die Welt gar nicht als ein Ding an ſich, mithin auch nicht ihrer Groͤſſe nach, weder als unendlich, noch als endlich gegeben ſeyn ſolte. Man erlaube mir: daß ich derglei- chen Entgegenſetzung die dialectiſche, die des Widerſpruchs aber, die analytiſche Oppoſition nennen darf. Alſo koͤnnen von zwey dialectiſch einander entgegengeſezten Ur- theilen alle beide falſch ſeyn, darum, weil eines dem an- dern nicht blos widerſpricht, ſondern etwas mehr ſagt, als zum Widerſpruche erfoderlich iſt. Wenn man die zwey Saͤtze: die Welt iſt der Groͤſſe nach unendlich, die Welt iſt ihrer Groͤſſe nach endlich, als einander contradictoriſch entgegengeſetzte anſieht, ſo nimt man an, daß die Welt (die ganze Reihe der Erſcheinun- gen) ein Ding an ſich ſelbſt ſey. Denn ſie bleibt, ich mag den unendlichen oder endlichen Regreſſus in der Reihe ihrer Erſcheinungen aufheben. Nehme ich aber dieſe Vor- ausſetzung, oder dieſen transſcendentalen Schein weg, und laͤugne, daß ſie ein Ding an ſich ſelbſt ſey, ſo verwandelt ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/534
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/534>, abgerufen am 20.05.2024.