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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

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Einleitung.
gemuntert, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Gren-
zen. Die leichte Taube, indem sie im freyen Fluge die
Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könte die Vor-
stellung fassen, daß es ihr im Luftleeren Raum noch viel
besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sin-
nenwelt, weil sie dem Verstande so vielfältige Hinder-
nisse legt, und wagte sich ienseit derselben auf den Flü-
geln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Ver-
standes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemü-
hungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Wie-
derhalt, gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen,
und woran er seine Kräfte anwenden konte, um den Ver-
stand von der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhn-
liches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Specula-
tion ihr Gebäude so früh, wie möglich, fertig zu machen,
und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund
dazu gut geleget sey. Alsdenn aber werden allerley Be-
schönigungen herbey gesucht, um uns wegen dessen Tüch-
tigkeit zu trösten, oder eine solche späte und gefährliche
Prüfung abzuweisen. Was uns aber während dem Bauen
von aller Besorgniß und Verdacht frey hält, und mit
scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein gros-
ser Theil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte
unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe,
die wir schon von Gegenständen haben. Dieses liefert
uns eine Menge von Erkentnissen, die, ob sie gleich nichts
weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desienigen

sind,
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Einleitung.
gemuntert, ſieht der Trieb zur Erweiterung keine Gren-
zen. Die leichte Taube, indem ſie im freyen Fluge die
Luft theilt, deren Widerſtand ſie fuͤhlt, koͤnte die Vor-
ſtellung faſſen, daß es ihr im Luftleeren Raum noch viel
beſſer gelingen werde. Eben ſo verließ Plato die Sin-
nenwelt, weil ſie dem Verſtande ſo vielfaͤltige Hinder-
niſſe legt, und wagte ſich ienſeit derſelben auf den Fluͤ-
geln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Ver-
ſtandes. Er bemerkte nicht, daß er durch ſeine Bemuͤ-
hungen keinen Weg gewoͤnne, denn er hatte keinen Wie-
derhalt, gleichſam zur Unterlage, worauf er ſich ſteifen,
und woran er ſeine Kraͤfte anwenden konte, um den Ver-
ſtand von der Stelle zu bringen. Es iſt aber ein gewoͤhn-
liches Schickſal der menſchlichen Vernunft in der Specula-
tion ihr Gebaͤude ſo fruͤh, wie moͤglich, fertig zu machen,
und hintennach allererſt zu unterſuchen, ob auch der Grund
dazu gut geleget ſey. Alsdenn aber werden allerley Be-
ſchoͤnigungen herbey geſucht, um uns wegen deſſen Tuͤch-
tigkeit zu troͤſten, oder eine ſolche ſpaͤte und gefaͤhrliche
Pruͤfung abzuweiſen. Was uns aber waͤhrend dem Bauen
von aller Beſorgniß und Verdacht frey haͤlt, und mit
ſcheinbarer Gruͤndlichkeit ſchmeichelt, iſt dieſes. Ein groſ-
ſer Theil, und vielleicht der groͤßte, von dem Geſchaͤfte
unſerer Vernunft beſteht in Zergliederungen der Begriffe,
die wir ſchon von Gegenſtaͤnden haben. Dieſes liefert
uns eine Menge von Erkentniſſen, die, ob ſie gleich nichts
weiter als Aufklaͤrungen oder Erlaͤuterungen desienigen

ſind,
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[5/0035] Einleitung. gemuntert, ſieht der Trieb zur Erweiterung keine Gren- zen. Die leichte Taube, indem ſie im freyen Fluge die Luft theilt, deren Widerſtand ſie fuͤhlt, koͤnte die Vor- ſtellung faſſen, daß es ihr im Luftleeren Raum noch viel beſſer gelingen werde. Eben ſo verließ Plato die Sin- nenwelt, weil ſie dem Verſtande ſo vielfaͤltige Hinder- niſſe legt, und wagte ſich ienſeit derſelben auf den Fluͤ- geln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Ver- ſtandes. Er bemerkte nicht, daß er durch ſeine Bemuͤ- hungen keinen Weg gewoͤnne, denn er hatte keinen Wie- derhalt, gleichſam zur Unterlage, worauf er ſich ſteifen, und woran er ſeine Kraͤfte anwenden konte, um den Ver- ſtand von der Stelle zu bringen. Es iſt aber ein gewoͤhn- liches Schickſal der menſchlichen Vernunft in der Specula- tion ihr Gebaͤude ſo fruͤh, wie moͤglich, fertig zu machen, und hintennach allererſt zu unterſuchen, ob auch der Grund dazu gut geleget ſey. Alsdenn aber werden allerley Be- ſchoͤnigungen herbey geſucht, um uns wegen deſſen Tuͤch- tigkeit zu troͤſten, oder eine ſolche ſpaͤte und gefaͤhrliche Pruͤfung abzuweiſen. Was uns aber waͤhrend dem Bauen von aller Beſorgniß und Verdacht frey haͤlt, und mit ſcheinbarer Gruͤndlichkeit ſchmeichelt, iſt dieſes. Ein groſ- ſer Theil, und vielleicht der groͤßte, von dem Geſchaͤfte unſerer Vernunft beſteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir ſchon von Gegenſtaͤnden haben. Dieſes liefert uns eine Menge von Erkentniſſen, die, ob ſie gleich nichts weiter als Aufklaͤrungen oder Erlaͤuterungen desienigen ſind, A 3

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Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/35>, abgerufen am 27.04.2024.