unter Erkentnissen steht, die ein eigenthümliches Product der Vernunft sind. Wer die Begriffe der Tugend aus Erfahrung schöpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beyspiel zur unvollkommenen Erläuterung dienen kan, als Muster zum Erkentnißquell machen wollte (wie es wirklich viele gethan haben,) der würde aus der Tu- gend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dage- gen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Mu- ster der Tugend vorgestellt wird, er doch immer das wah- re Original blos in seinem eigenen Kopfe habe, womit er dieses angebliche Muster vergleicht, und es blos darnach schäzt. Dieses ist aber die Idee der Tugend, in Ansehung deren alle mögliche Gegenstände der Erfahrung zwar als Beyspiele (Beweise der Thunlichkeit desienigen im gewissen Grade, was der Begriff der Vernunft heischt), aber nicht als Urbilder Dienste thun. Daß niemals ein Mensch dem- ienigen adäquat handeln werde, was die reine Idee der Tugend enthält, beweiset gar nicht etwas Chimärisches in diesem Gedanken. Denn es ist gleichwol alles Urtheil, über den moralischen Werth oder Unwerth, nur vermit- telst dieser Idee möglich; mithin liegt sie ieder Annähe- rung zur moralischen Vollkommenheit nothwendig zum Grunde, so weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu be- stimmende Hindernisse in der menschlichen Natur uns da- von entfernt halten mögen.
Die
I. Abſchnitt. Von den Ideen uͤberhaupt.
unter Erkentniſſen ſteht, die ein eigenthuͤmliches Product der Vernunft ſind. Wer die Begriffe der Tugend aus Erfahrung ſchoͤpfen wollte, wer das, was nur allenfalls als Beyſpiel zur unvollkommenen Erlaͤuterung dienen kan, als Muſter zum Erkentnißquell machen wollte (wie es wirklich viele gethan haben,) der wuͤrde aus der Tu- gend ein nach Zeit und Umſtaͤnden wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dage- gen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Mu- ſter der Tugend vorgeſtellt wird, er doch immer das wah- re Original blos in ſeinem eigenen Kopfe habe, womit er dieſes angebliche Muſter vergleicht, und es blos darnach ſchaͤzt. Dieſes iſt aber die Idee der Tugend, in Anſehung deren alle moͤgliche Gegenſtaͤnde der Erfahrung zwar als Beyſpiele (Beweiſe der Thunlichkeit desienigen im gewiſſen Grade, was der Begriff der Vernunft heiſcht), aber nicht als Urbilder Dienſte thun. Daß niemals ein Menſch dem- ienigen adaͤquat handeln werde, was die reine Idee der Tugend enthaͤlt, beweiſet gar nicht etwas Chimaͤriſches in dieſem Gedanken. Denn es iſt gleichwol alles Urtheil, uͤber den moraliſchen Werth oder Unwerth, nur vermit- telſt dieſer Idee moͤglich; mithin liegt ſie ieder Annaͤhe- rung zur moraliſchen Vollkommenheit nothwendig zum Grunde, ſo weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu be- ſtimmende Hinderniſſe in der menſchlichen Natur uns da- von entfernt halten moͤgen.
Die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><p><pbfacs="#f0345"n="315"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">I.</hi> Abſchnitt. Von den Ideen uͤberhaupt.</fw><lb/>
unter Erkentniſſen ſteht, die ein eigenthuͤmliches Product<lb/>
der Vernunft ſind. Wer die Begriffe der Tugend aus<lb/>
Erfahrung ſchoͤpfen wollte, wer das, was nur allenfalls<lb/>
als Beyſpiel zur unvollkommenen Erlaͤuterung dienen kan,<lb/>
als Muſter zum Erkentnißquell machen wollte (wie es<lb/>
wirklich viele gethan haben,) der wuͤrde aus der Tu-<lb/>
gend ein nach Zeit und Umſtaͤnden wandelbares, zu keiner<lb/>
Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dage-<lb/>
gen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Mu-<lb/>ſter der Tugend vorgeſtellt wird, er doch immer das wah-<lb/>
re Original blos in ſeinem eigenen Kopfe habe, womit er<lb/>
dieſes angebliche Muſter vergleicht, und es blos darnach<lb/>ſchaͤzt. Dieſes iſt aber die Idee der Tugend, in Anſehung<lb/>
deren alle moͤgliche Gegenſtaͤnde der Erfahrung zwar als<lb/>
Beyſpiele (Beweiſe der Thunlichkeit desienigen im gewiſſen<lb/>
Grade, was der Begriff der Vernunft heiſcht), aber nicht<lb/>
als Urbilder Dienſte thun. Daß niemals ein Menſch dem-<lb/>
ienigen adaͤquat handeln werde, was die reine Idee der<lb/>
Tugend enthaͤlt, beweiſet gar nicht etwas Chimaͤriſches in<lb/>
dieſem Gedanken. Denn es iſt gleichwol alles Urtheil,<lb/>
uͤber den moraliſchen Werth oder Unwerth, nur vermit-<lb/>
telſt dieſer Idee moͤglich; mithin liegt ſie ieder Annaͤhe-<lb/>
rung zur moraliſchen Vollkommenheit nothwendig zum<lb/>
Grunde, ſo weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu be-<lb/>ſtimmende Hinderniſſe in der menſchlichen Natur uns da-<lb/>
von entfernt halten moͤgen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[315/0345]
I. Abſchnitt. Von den Ideen uͤberhaupt.
unter Erkentniſſen ſteht, die ein eigenthuͤmliches Product
der Vernunft ſind. Wer die Begriffe der Tugend aus
Erfahrung ſchoͤpfen wollte, wer das, was nur allenfalls
als Beyſpiel zur unvollkommenen Erlaͤuterung dienen kan,
als Muſter zum Erkentnißquell machen wollte (wie es
wirklich viele gethan haben,) der wuͤrde aus der Tu-
gend ein nach Zeit und Umſtaͤnden wandelbares, zu keiner
Regel brauchbares zweideutiges Unding machen. Dage-
gen wird ein ieder inne: daß, wenn ihm iemand als Mu-
ſter der Tugend vorgeſtellt wird, er doch immer das wah-
re Original blos in ſeinem eigenen Kopfe habe, womit er
dieſes angebliche Muſter vergleicht, und es blos darnach
ſchaͤzt. Dieſes iſt aber die Idee der Tugend, in Anſehung
deren alle moͤgliche Gegenſtaͤnde der Erfahrung zwar als
Beyſpiele (Beweiſe der Thunlichkeit desienigen im gewiſſen
Grade, was der Begriff der Vernunft heiſcht), aber nicht
als Urbilder Dienſte thun. Daß niemals ein Menſch dem-
ienigen adaͤquat handeln werde, was die reine Idee der
Tugend enthaͤlt, beweiſet gar nicht etwas Chimaͤriſches in
dieſem Gedanken. Denn es iſt gleichwol alles Urtheil,
uͤber den moraliſchen Werth oder Unwerth, nur vermit-
telſt dieſer Idee moͤglich; mithin liegt ſie ieder Annaͤhe-
rung zur moraliſchen Vollkommenheit nothwendig zum
Grunde, ſo weit auch die, ihrem Grade nach nicht zu be-
ſtimmende Hinderniſſe in der menſchlichen Natur uns da-
von entfernt halten moͤgen.
Die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/345>, abgerufen am 10.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.