verband. Ich merke nur an: daß es gar nichts ungewöhn- liches sey, so wol im gemeinen Gespräche, als in Schrif- ten, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äussert, ihn so gar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimte, und dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete, oder auch dachte.
Plato bemerkte sehr wol, daß unsere Erkentnißkraft ein weit höheres Bedürfniß fühle, als blos Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabiren, um sie als Erfah- rung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürli- cher Weise sich zu Erkentnissen aufschwinge, die viel wei- ter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kan, iemals mit ihnen congruiren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges blosse Hirngespinste seyn.
Plato fand seine Ideen vorzüglich in allem was prac- tisch ist,*) d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrer Seits
unter
*) Er dehnte seinen Begriff freilich auch auf speculative Erkentnisse aus, wenn sie nur rein und völlig a priori gegeben waren, so gar über die Mathematik, ob diese gleich ihren Gegenstand nirgend anders, als in der mögli- chen Erfahrung hat. Hierin kan ich ihm nun nicht fol- gen, so wenig als in der mystischen Deduction dieser Ideen, oder den Uebertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypo- stasirte; wiewol die hohe Sprache, deren er sich in die- sem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemessenen Auslegung ganz wol fähig ist.
Elementarl. II. Th. II. Abth. I. Buch.
verband. Ich merke nur an: daß es gar nichts ungewoͤhn- liches ſey, ſo wol im gemeinen Geſpraͤche, als in Schrif- ten, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfaſſer uͤber ſeinen Gegenſtand aͤuſſert, ihn ſo gar beſſer zu verſtehen, als er ſich ſelbſt verſtand, indem er ſeinen Begriff nicht genugſam beſtimte, und dadurch bisweilen ſeiner eigenen Abſicht entgegen redete, oder auch dachte.
Plato bemerkte ſehr wol, daß unſere Erkentnißkraft ein weit hoͤheres Beduͤrfniß fuͤhle, als blos Erſcheinungen nach ſynthetiſcher Einheit buchſtabiren, um ſie als Erfah- rung leſen zu koͤnnen, und daß unſere Vernunft natuͤrli- cher Weiſe ſich zu Erkentniſſen aufſchwinge, die viel wei- ter gehen, als daß irgend ein Gegenſtand, den Erfahrung geben kan, iemals mit ihnen congruiren koͤnne, die aber nichtsdeſtoweniger ihre Realitaͤt haben und keinesweges bloſſe Hirngeſpinſte ſeyn.
Plato fand ſeine Ideen vorzuͤglich in allem was prac- tiſch iſt,*) d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrer Seits
unter
*) Er dehnte ſeinen Begriff freilich auch auf ſpeculative Erkentniſſe aus, wenn ſie nur rein und voͤllig a priori gegeben waren, ſo gar uͤber die Mathematik, ob dieſe gleich ihren Gegenſtand nirgend anders, als in der moͤgli- chen Erfahrung hat. Hierin kan ich ihm nun nicht fol- gen, ſo wenig als in der myſtiſchen Deduction dieſer Ideen, oder den Uebertreibungen, dadurch er ſie gleichſam hypo- ſtaſirte; wiewol die hohe Sprache, deren er ſich in die- ſem Felde bediente, einer milderen und der Natur der Dinge angemeſſenen Auslegung ganz wol faͤhig iſt.
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Elementarl. II. Th. II. Abth. I. Buch.
verband. Ich merke nur an: daß es gar nichts ungewoͤhn-
liches ſey, ſo wol im gemeinen Geſpraͤche, als in Schrif-
ten, durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein
Verfaſſer uͤber ſeinen Gegenſtand aͤuſſert, ihn ſo gar beſſer
zu verſtehen, als er ſich ſelbſt verſtand, indem er ſeinen
Begriff nicht genugſam beſtimte, und dadurch bisweilen
ſeiner eigenen Abſicht entgegen redete, oder auch dachte.
Plato bemerkte ſehr wol, daß unſere Erkentnißkraft
ein weit hoͤheres Beduͤrfniß fuͤhle, als blos Erſcheinungen
nach ſynthetiſcher Einheit buchſtabiren, um ſie als Erfah-
rung leſen zu koͤnnen, und daß unſere Vernunft natuͤrli-
cher Weiſe ſich zu Erkentniſſen aufſchwinge, die viel wei-
ter gehen, als daß irgend ein Gegenſtand, den Erfahrung
geben kan, iemals mit ihnen congruiren koͤnne, die aber
nichtsdeſtoweniger ihre Realitaͤt haben und keinesweges
bloſſe Hirngeſpinſte ſeyn.
Plato fand ſeine Ideen vorzuͤglich in allem was prac-
tiſch iſt, *) d. i. auf Freiheit beruht, welche ihrer Seits
unter
*) Er dehnte ſeinen Begriff freilich auch auf ſpeculative
Erkentniſſe aus, wenn ſie nur rein und voͤllig a priori
gegeben waren, ſo gar uͤber die Mathematik, ob dieſe
gleich ihren Gegenſtand nirgend anders, als in der moͤgli-
chen Erfahrung hat. Hierin kan ich ihm nun nicht fol-
gen, ſo wenig als in der myſtiſchen Deduction dieſer Ideen,
oder den Uebertreibungen, dadurch er ſie gleichſam hypo-
ſtaſirte; wiewol die hohe Sprache, deren er ſich in die-
ſem Felde bediente, einer milderen und der Natur der
Dinge angemeſſenen Auslegung ganz wol faͤhig iſt.
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/344>, abgerufen am 22.11.2024.
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