Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Abschnitt. Von den Ideen überhaupt.
Unterscheidung von andern verwandten Begriffen von gros-
ser Wichtigkeit ist, so ist es rathsam, damit nicht ver-
schwenderisch umzugehen, oder es blos zur Abwechselung,
synonimisch statt anderer zu gebrauchen, sondern ihm seine
eigenthümliche Bedeutung sorgfältig aufzubehalten; weil
es sonst leichtlich geschieht: daß, nachdem der Ausdruck
die Aufmerksamkeit nicht besonders beschäftigt, sondern
sich unter dem Haufen anderer von sehr abweichender Be-
deutung verliert, auch der Gedanke verlohren gehe, den
er allein hätte aufbehalten können.

Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so: daß man
wol sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht
allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern
welches so gar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich
Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Er-
fahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen
wird. Die Ideen sind bey ihm Urbilder der Dinge selbst,
und nicht blos Schlüssel zu möglichen Erfahrungen, wie die
Categorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus der höch-
sten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Theil
geworden, die sich aber iezt nicht mehr in ihrem ursprüng-
lichen Zustande befindet, sondern mit Mühe die alte, iezt
sehr verdunkelte Ideen, durch Erinnerung (die Philoso-
phie heißt) zurükruffen muß. Ich will mich hier in keine
litterarische Untersuchung einlassen, um den Sinn auszu-
machen, den der erhabene Philosoph mit seinem Ausdrucke

ver-
U 5

I. Abſchnitt. Von den Ideen uͤberhaupt.
Unterſcheidung von andern verwandten Begriffen von groſ-
ſer Wichtigkeit iſt, ſo iſt es rathſam, damit nicht ver-
ſchwenderiſch umzugehen, oder es blos zur Abwechſelung,
ſynonimiſch ſtatt anderer zu gebrauchen, ſondern ihm ſeine
eigenthuͤmliche Bedeutung ſorgfaͤltig aufzubehalten; weil
es ſonſt leichtlich geſchieht: daß, nachdem der Ausdruck
die Aufmerkſamkeit nicht beſonders beſchaͤftigt, ſondern
ſich unter dem Haufen anderer von ſehr abweichender Be-
deutung verliert, auch der Gedanke verlohren gehe, den
er allein haͤtte aufbehalten koͤnnen.

Plato bediente ſich des Ausdrucks Idee ſo: daß man
wol ſieht, er habe darunter etwas verſtanden, was nicht
allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, ſondern
welches ſo gar die Begriffe des Verſtandes, mit denen ſich
Ariſtoteles beſchaͤftigte, weit uͤberſteigt, indem in der Er-
fahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen
wird. Die Ideen ſind bey ihm Urbilder der Dinge ſelbſt,
und nicht blos Schluͤſſel zu moͤglichen Erfahrungen, wie die
Categorien. Nach ſeiner Meinung floſſen ſie aus der hoͤch-
ſten Vernunft aus, von da ſie der menſchlichen zu Theil
geworden, die ſich aber iezt nicht mehr in ihrem urſpruͤng-
lichen Zuſtande befindet, ſondern mit Muͤhe die alte, iezt
ſehr verdunkelte Ideen, durch Erinnerung (die Philoſo-
phie heißt) zuruͤkruffen muß. Ich will mich hier in keine
litterariſche Unterſuchung einlaſſen, um den Sinn auszu-
machen, den der erhabene Philoſoph mit ſeinem Ausdrucke

ver-
U 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0343" n="313"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Von den Ideen u&#x0364;berhaupt.</fw><lb/>
Unter&#x017F;cheidung von andern verwandten Begriffen von gro&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er Wichtigkeit i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t es rath&#x017F;am, damit nicht ver-<lb/>
&#x017F;chwenderi&#x017F;ch umzugehen, oder es blos zur Abwech&#x017F;elung,<lb/>
&#x017F;ynonimi&#x017F;ch &#x017F;tatt anderer zu gebrauchen, &#x017F;ondern ihm &#x017F;eine<lb/>
eigenthu&#x0364;mliche Bedeutung &#x017F;orgfa&#x0364;ltig aufzubehalten; weil<lb/>
es &#x017F;on&#x017F;t leichtlich ge&#x017F;chieht: daß, nachdem der Ausdruck<lb/>
die Aufmerk&#x017F;amkeit nicht be&#x017F;onders be&#x017F;cha&#x0364;ftigt, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;ich unter dem Haufen anderer von &#x017F;ehr abweichender Be-<lb/>
deutung verliert, auch der Gedanke verlohren gehe, den<lb/>
er allein ha&#x0364;tte aufbehalten ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
                  <p>Plato bediente &#x017F;ich des Ausdrucks Idee &#x017F;o: daß man<lb/>
wol &#x017F;ieht, er habe darunter etwas ver&#x017F;tanden, was nicht<lb/>
allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, &#x017F;ondern<lb/>
welches &#x017F;o gar die Begriffe des Ver&#x017F;tandes, mit denen &#x017F;ich<lb/>
Ari&#x017F;toteles be&#x017F;cha&#x0364;ftigte, weit u&#x0364;ber&#x017F;teigt, indem in der Er-<lb/>
fahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen<lb/>
wird. Die Ideen &#x017F;ind bey ihm Urbilder der Dinge &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
und nicht blos Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el zu mo&#x0364;glichen Erfahrungen, wie die<lb/>
Categorien. Nach &#x017F;einer Meinung flo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie aus der ho&#x0364;ch-<lb/>
&#x017F;ten Vernunft aus, von da &#x017F;ie der men&#x017F;chlichen zu Theil<lb/>
geworden, die &#x017F;ich aber iezt nicht mehr in ihrem ur&#x017F;pru&#x0364;ng-<lb/>
lichen Zu&#x017F;tande befindet, &#x017F;ondern mit Mu&#x0364;he die alte, iezt<lb/>
&#x017F;ehr verdunkelte Ideen, durch Erinnerung (die Philo&#x017F;o-<lb/>
phie heißt) zuru&#x0364;kruffen muß. Ich will mich hier in keine<lb/>
litterari&#x017F;che Unter&#x017F;uchung einla&#x017F;&#x017F;en, um den Sinn auszu-<lb/>
machen, den der erhabene Philo&#x017F;oph mit &#x017F;einem Ausdrucke<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ver-</fw><lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[313/0343] I. Abſchnitt. Von den Ideen uͤberhaupt. Unterſcheidung von andern verwandten Begriffen von groſ- ſer Wichtigkeit iſt, ſo iſt es rathſam, damit nicht ver- ſchwenderiſch umzugehen, oder es blos zur Abwechſelung, ſynonimiſch ſtatt anderer zu gebrauchen, ſondern ihm ſeine eigenthuͤmliche Bedeutung ſorgfaͤltig aufzubehalten; weil es ſonſt leichtlich geſchieht: daß, nachdem der Ausdruck die Aufmerkſamkeit nicht beſonders beſchaͤftigt, ſondern ſich unter dem Haufen anderer von ſehr abweichender Be- deutung verliert, auch der Gedanke verlohren gehe, den er allein haͤtte aufbehalten koͤnnen. Plato bediente ſich des Ausdrucks Idee ſo: daß man wol ſieht, er habe darunter etwas verſtanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, ſondern welches ſo gar die Begriffe des Verſtandes, mit denen ſich Ariſtoteles beſchaͤftigte, weit uͤberſteigt, indem in der Er- fahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. Die Ideen ſind bey ihm Urbilder der Dinge ſelbſt, und nicht blos Schluͤſſel zu moͤglichen Erfahrungen, wie die Categorien. Nach ſeiner Meinung floſſen ſie aus der hoͤch- ſten Vernunft aus, von da ſie der menſchlichen zu Theil geworden, die ſich aber iezt nicht mehr in ihrem urſpruͤng- lichen Zuſtande befindet, ſondern mit Muͤhe die alte, iezt ſehr verdunkelte Ideen, durch Erinnerung (die Philoſo- phie heißt) zuruͤkruffen muß. Ich will mich hier in keine litterariſche Unterſuchung einlaſſen, um den Sinn auszu- machen, den der erhabene Philoſoph mit ſeinem Ausdrucke ver- U 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/343
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/343>, abgerufen am 03.12.2024.