Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.
gelöst. Zwar ist die Beantwortung iener Fragen gar
nicht so ausgefallen, als dogmatischschwärmende Wiß-
begierde erwarten mogte; denn die könte nicht anders
als durch Zauberkünste, darauf ich mich nicht ver-
stehe, befriedigt werden. Allein, das war auch wol
nicht die Absicht der Naturbestimmung unserer Ver-
nunft und die Pflicht der Philosophie war: das Blend-
werk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben,
solte auch noch so viel gepriesener und beliebter Wahn
dabey zu nichte gehen. In dieser Beschäftigung habe
ich Ausführlichkeit mein grosses Augenmerk seyn las-
sen und ich erkühne mich zu sagen, daß nicht eine ein-
zige metaphysische Aufgabe seyn müsse, die hier nicht
aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens
der Schlüssel dargereicht worden. In der That ist
auch reine Vernunft eine so vollkommene Einheit: daß,
wenn das Princip derselben auch nur zu einer einzigen
aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur auf-
gegeben sind, unzureichend wäre, man dieses immer-
hin nur wegwerfen könte, weil es alsdenn auch keiner
der übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen seyn
würde.

Ich glaube, indem ich dieses sage, in dem Ge-
sichte des Lesers einen mit Verachtung vermischten Un-

willen

Vorrede.
geloͤſt. Zwar iſt die Beantwortung iener Fragen gar
nicht ſo ausgefallen, als dogmatiſchſchwaͤrmende Wiß-
begierde erwarten mogte; denn die koͤnte nicht anders
als durch Zauberkuͤnſte, darauf ich mich nicht ver-
ſtehe, befriedigt werden. Allein, das war auch wol
nicht die Abſicht der Naturbeſtimmung unſerer Ver-
nunft und die Pflicht der Philoſophie war: das Blend-
werk, das aus Mißdeutung entſprang, aufzuheben,
ſolte auch noch ſo viel geprieſener und beliebter Wahn
dabey zu nichte gehen. In dieſer Beſchaͤftigung habe
ich Ausfuͤhrlichkeit mein groſſes Augenmerk ſeyn laſ-
ſen und ich erkuͤhne mich zu ſagen, daß nicht eine ein-
zige metaphyſiſche Aufgabe ſeyn muͤſſe, die hier nicht
aufgeloͤſt, oder zu deren Aufloͤſung nicht wenigſtens
der Schluͤſſel dargereicht worden. In der That iſt
auch reine Vernunft eine ſo vollkommene Einheit: daß,
wenn das Princip derſelben auch nur zu einer einzigen
aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur auf-
gegeben ſind, unzureichend waͤre, man dieſes immer-
hin nur wegwerfen koͤnte, weil es alsdenn auch keiner
der uͤbrigen mit voͤlliger Zuverlaͤſſigkeit gewachſen ſeyn
wuͤrde.

Ich glaube, indem ich dieſes ſage, in dem Ge-
ſichte des Leſers einen mit Verachtung vermiſchten Un-

willen
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></fw><lb/>
gelo&#x0364;&#x017F;t. Zwar i&#x017F;t die Beantwortung iener Fragen gar<lb/>
nicht &#x017F;o ausgefallen, als dogmati&#x017F;ch&#x017F;chwa&#x0364;rmende Wiß-<lb/>
begierde erwarten mogte; denn die ko&#x0364;nte nicht anders<lb/>
als durch Zauberku&#x0364;n&#x017F;te, darauf ich mich nicht ver-<lb/>
&#x017F;tehe, befriedigt werden. Allein, das war auch wol<lb/>
nicht die Ab&#x017F;icht der Naturbe&#x017F;timmung un&#x017F;erer Ver-<lb/>
nunft und die Pflicht der Philo&#x017F;ophie war: das Blend-<lb/>
werk, das aus Mißdeutung ent&#x017F;prang, aufzuheben,<lb/>
&#x017F;olte auch noch &#x017F;o viel geprie&#x017F;ener und beliebter Wahn<lb/>
dabey zu nichte gehen. In die&#x017F;er Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung habe<lb/>
ich Ausfu&#x0364;hrlichkeit mein gro&#x017F;&#x017F;es Augenmerk &#x017F;eyn la&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en und ich erku&#x0364;hne mich zu &#x017F;agen, daß nicht eine ein-<lb/>
zige metaphy&#x017F;i&#x017F;che Aufgabe &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, die hier nicht<lb/>
aufgelo&#x0364;&#x017F;t, oder zu deren Auflo&#x0364;&#x017F;ung nicht wenig&#x017F;tens<lb/>
der Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;el dargereicht worden. In der That i&#x017F;t<lb/>
auch reine Vernunft eine &#x017F;o vollkommene Einheit: daß,<lb/>
wenn das Princip der&#x017F;elben auch nur zu einer einzigen<lb/>
aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur auf-<lb/>
gegeben &#x017F;ind, unzureichend wa&#x0364;re, man die&#x017F;es immer-<lb/>
hin nur wegwerfen ko&#x0364;nte, weil es alsdenn auch keiner<lb/>
der u&#x0364;brigen mit vo&#x0364;lliger Zuverla&#x0364;&#x017F;&#x017F;igkeit gewach&#x017F;en &#x017F;eyn<lb/>
wu&#x0364;rde.</p><lb/>
        <p>Ich glaube, indem ich die&#x017F;es &#x017F;age, in dem Ge-<lb/>
&#x017F;ichte des Le&#x017F;ers einen mit Verachtung vermi&#x017F;chten Un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">willen</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[0019] Vorrede. geloͤſt. Zwar iſt die Beantwortung iener Fragen gar nicht ſo ausgefallen, als dogmatiſchſchwaͤrmende Wiß- begierde erwarten mogte; denn die koͤnte nicht anders als durch Zauberkuͤnſte, darauf ich mich nicht ver- ſtehe, befriedigt werden. Allein, das war auch wol nicht die Abſicht der Naturbeſtimmung unſerer Ver- nunft und die Pflicht der Philoſophie war: das Blend- werk, das aus Mißdeutung entſprang, aufzuheben, ſolte auch noch ſo viel geprieſener und beliebter Wahn dabey zu nichte gehen. In dieſer Beſchaͤftigung habe ich Ausfuͤhrlichkeit mein groſſes Augenmerk ſeyn laſ- ſen und ich erkuͤhne mich zu ſagen, daß nicht eine ein- zige metaphyſiſche Aufgabe ſeyn muͤſſe, die hier nicht aufgeloͤſt, oder zu deren Aufloͤſung nicht wenigſtens der Schluͤſſel dargereicht worden. In der That iſt auch reine Vernunft eine ſo vollkommene Einheit: daß, wenn das Princip derſelben auch nur zu einer einzigen aller der Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur auf- gegeben ſind, unzureichend waͤre, man dieſes immer- hin nur wegwerfen koͤnte, weil es alsdenn auch keiner der uͤbrigen mit voͤlliger Zuverlaͤſſigkeit gewachſen ſeyn wuͤrde. Ich glaube, indem ich dieſes ſage, in dem Ge- ſichte des Leſers einen mit Verachtung vermiſchten Un- willen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/19
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/19>, abgerufen am 18.04.2024.