Kant, Immanuel: Critik der practischen Vernunft. Riga, 1788.Vorrede. Erkenntniß- und Begehrungsvermögens ausgemittelt,und, nach den Bedingungen, dem Umfange und Gren- schiedenen philosophischen Schulen gegen einander stellete,
die Idee der Weisheit von der der Heiligkeit unterschieden, ob ich sie gleich selbst im Grunde und objectiv für einerley erkläret habe. Allein ich verstehe an diesem Orte darun- ter nur diejenige Weisheit, die sich der Mensch (der Stoi- ker) anmaaßt, also subjectiv als Eigenschaft dem Men- schen angedichtet. (Vielleicht könnte der Ausdruck Tu- gend, womit der Stoiker auch großen Staat trieb, bes- ser das Characteristische seiner Schule bezeichnen.) Aber der Ausdruck eines Postulats der r. pr. Vern. konnte noch am meisten Misdeutung veranlassen, wenn man da- mit die Bedeutung vermengete, welche die Postulate der reinen Mathematik haben, und welche apodictische Ge- wißheit bey sich führen. Aber diese postuliren die Mög- lichkeit einer Handlung, deren Gegenstand man a priori theoretisch mit völliger Gewißheit als möglich voraus erkannt hat. Jenes aber postulirt die Möglich- keit eines Gegenstandes (Gottes und der Unsterblichkeit der Seele) selbst aus apodictischen practischen Gesetzen, also nur zum Behuf einer practischen Vernunft; da denn diese Gewißheit der postulirten Möglichkeit gar nicht theo- Vorrede. Erkenntniß- und Begehrungsvermoͤgens ausgemittelt,und, nach den Bedingungen, dem Umfange und Gren- ſchiedenen philoſophiſchen Schulen gegen einander ſtellete,
die Idee der Weisheit von der der Heiligkeit unterſchieden, ob ich ſie gleich ſelbſt im Grunde und objectiv fuͤr einerley erklaͤret habe. Allein ich verſtehe an dieſem Orte darun- ter nur diejenige Weisheit, die ſich der Menſch (der Stoi- ker) anmaaßt, alſo ſubjectiv als Eigenſchaft dem Men- ſchen angedichtet. (Vielleicht koͤnnte der Ausdruck Tu- gend, womit der Stoiker auch großen Staat trieb, beſ- ſer das Characteriſtiſche ſeiner Schule bezeichnen.) Aber der Ausdruck eines Poſtulats der r. pr. Vern. konnte noch am meiſten Misdeutung veranlaſſen, wenn man da- mit die Bedeutung vermengete, welche die Poſtulate der reinen Mathematik haben, und welche apodictiſche Ge- wißheit bey ſich fuͤhren. Aber dieſe poſtuliren die Moͤg- lichkeit einer Handlung, deren Gegenſtand man a priori theoretiſch mit voͤlliger Gewißheit als moͤglich voraus erkannt hat. Jenes aber poſtulirt die Moͤglich- keit eines Gegenſtandes (Gottes und der Unſterblichkeit der Seele) ſelbſt aus apodictiſchen practiſchen Geſetzen, alſo nur zum Behuf einer practiſchen Vernunft; da denn dieſe Gewißheit der poſtulirten Moͤglichkeit gar nicht theo- <TEI> <text> <front> <div n="1"> <p><pb facs="#f0030" n="22"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</fw><lb/> Erkenntniß- und Begehrungsvermoͤgens ausgemittelt,<lb/> und, nach den Bedingungen, dem Umfange und<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Gren-</fw><lb/><note next="#seg2pn_2_4" xml:id="seg2pn_2_3" prev="#seg2pn_2_2" place="foot" n="*)">ſchiedenen philoſophiſchen Schulen gegen einander ſtellete,<lb/> die Idee der <hi rendition="#fr">Weisheit</hi> von der der <hi rendition="#fr">Heiligkeit</hi> unterſchieden,<lb/> ob ich ſie gleich ſelbſt im Grunde und objectiv fuͤr einerley<lb/> erklaͤret habe. Allein ich verſtehe an dieſem Orte darun-<lb/> ter nur diejenige Weisheit, die ſich der Menſch (der Stoi-<lb/> ker) anmaaßt, alſo ſubjectiv als Eigenſchaft dem Men-<lb/> ſchen angedichtet. (Vielleicht koͤnnte der Ausdruck <hi rendition="#fr">Tu-<lb/> gend</hi>, womit der Stoiker auch großen Staat trieb, beſ-<lb/> ſer das Characteriſtiſche ſeiner Schule bezeichnen.) Aber<lb/> der Ausdruck eines <hi rendition="#fr">Poſtulats</hi> der r. pr. Vern. konnte<lb/> noch am meiſten Misdeutung veranlaſſen, wenn man da-<lb/> mit die Bedeutung vermengete, welche die Poſtulate der<lb/> reinen Mathematik haben, und welche apodictiſche Ge-<lb/> wißheit bey ſich fuͤhren. Aber dieſe poſtuliren die <hi rendition="#fr">Moͤg-<lb/> lichkeit</hi> einer <hi rendition="#fr">Handlung</hi>, deren Gegenſtand man <hi rendition="#aq">a<lb/> priori</hi> theoretiſch mit voͤlliger Gewißheit als <hi rendition="#fr">moͤglich</hi><lb/> voraus erkannt hat. Jenes aber poſtulirt die Moͤglich-<lb/> keit eines <hi rendition="#fr">Gegenſtandes</hi> (Gottes und der Unſterblichkeit<lb/> der Seele) ſelbſt aus apodictiſchen <hi rendition="#fr">practiſchen</hi> Geſetzen,<lb/> alſo nur zum Behuf einer practiſchen Vernunft; da denn<lb/> dieſe Gewißheit der poſtulirten Moͤglichkeit gar nicht<lb/> <fw place="bottom" type="catch">theo-</fw></note><lb/></p> </div> </front> </text> </TEI> [22/0030]
Vorrede.
Erkenntniß- und Begehrungsvermoͤgens ausgemittelt,
und, nach den Bedingungen, dem Umfange und
Gren-
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*) ſchiedenen philoſophiſchen Schulen gegen einander ſtellete,
die Idee der Weisheit von der der Heiligkeit unterſchieden,
ob ich ſie gleich ſelbſt im Grunde und objectiv fuͤr einerley
erklaͤret habe. Allein ich verſtehe an dieſem Orte darun-
ter nur diejenige Weisheit, die ſich der Menſch (der Stoi-
ker) anmaaßt, alſo ſubjectiv als Eigenſchaft dem Men-
ſchen angedichtet. (Vielleicht koͤnnte der Ausdruck Tu-
gend, womit der Stoiker auch großen Staat trieb, beſ-
ſer das Characteriſtiſche ſeiner Schule bezeichnen.) Aber
der Ausdruck eines Poſtulats der r. pr. Vern. konnte
noch am meiſten Misdeutung veranlaſſen, wenn man da-
mit die Bedeutung vermengete, welche die Poſtulate der
reinen Mathematik haben, und welche apodictiſche Ge-
wißheit bey ſich fuͤhren. Aber dieſe poſtuliren die Moͤg-
lichkeit einer Handlung, deren Gegenſtand man a
priori theoretiſch mit voͤlliger Gewißheit als moͤglich
voraus erkannt hat. Jenes aber poſtulirt die Moͤglich-
keit eines Gegenſtandes (Gottes und der Unſterblichkeit
der Seele) ſelbſt aus apodictiſchen practiſchen Geſetzen,
alſo nur zum Behuf einer practiſchen Vernunft; da denn
dieſe Gewißheit der poſtulirten Moͤglichkeit gar nicht
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