Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, sagte Vater Stil- ling, und setzte sich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, stellte ihn hin und setzte sich auch. Heinrich aber sah in seiner Seele wieder die egyptische Wüste vor sich, worin- nen er gern Antonius geworden wäre; bald darauf sah er den Brunnen der Melusine vor sich, und wünschte, daß er Ray- mund wäre; dann vereinigten sich beide Ideen, und es wurde eine fromme romantische Empfindung daraus, die ihm alles Schöne und Gute dieser einsamen Gegend mit höchster Wol- lust schmecken ließ. Vater Stilling stand endlich auf und sagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen und abständig Holz suchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant- wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging.
Indessen saßen Mariechen und Heinrich beisammen und waren vertraulich. Erzähle mir doch, Baase! sagte Hein- rich, die Historie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzählte:
"Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte sie sich bald zur Katze, oder zum Haasen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde sie ordentlich wieder wie ein Mensch gestaltet. Sie konnte das Wild und die Vögel herbeilocken, und dann schlach- tete sie's, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, so mußte er stille stehen und konnte sich nicht von der Stelle bewegen, bis sie ihn los sprach: wenn aber eine reine, keusche Jungfer in den Kreis kam, so verwandelte sie dieselbe in einen Vogel und sperrte sie dann in einen Korb ein, in die Kammern des Schlosses. Sie hatte wohl siebentausend solcher Körbe mit so raren Vögeln im Schlosse.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; sie war schöner als alle andern Mädchen, die, und dann ein garschöner Jüngling, Namens Joringel, hatten sich zusammen versprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr größtes Ver- gnügen eins am andern. Damit sie nun einsmalen vertraut zusammen reden könnten, gingen sie in den Wald spatzieren. Hüte dich, sagte Joringel, daß du nicht zu nah' an das Schloß
Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, ſagte Vater Stil- ling, und ſetzte ſich nieder; Mariechen nahm ihren Korb ab, ſtellte ihn hin und ſetzte ſich auch. Heinrich aber ſah in ſeiner Seele wieder die egyptiſche Wuͤſte vor ſich, worin- nen er gern Antonius geworden waͤre; bald darauf ſah er den Brunnen der Meluſine vor ſich, und wuͤnſchte, daß er Ray- mund waͤre; dann vereinigten ſich beide Ideen, und es wurde eine fromme romantiſche Empfindung daraus, die ihm alles Schoͤne und Gute dieſer einſamen Gegend mit hoͤchſter Wol- luſt ſchmecken ließ. Vater Stilling ſtand endlich auf und ſagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen und abſtaͤndig Holz ſuchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant- wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging.
Indeſſen ſaßen Mariechen und Heinrich beiſammen und waren vertraulich. Erzaͤhle mir doch, Baaſe! ſagte Hein- rich, die Hiſtorie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen erzaͤhlte:
„Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte ſie ſich bald zur Katze, oder zum Haaſen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde ſie ordentlich wieder wie ein Menſch geſtaltet. Sie konnte das Wild und die Voͤgel herbeilocken, und dann ſchlach- tete ſie’s, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert Schritte dem Schloß nahe kam, ſo mußte er ſtille ſtehen und konnte ſich nicht von der Stelle bewegen, bis ſie ihn los ſprach: wenn aber eine reine, keuſche Jungfer in den Kreis kam, ſo verwandelte ſie dieſelbe in einen Vogel und ſperrte ſie dann in einen Korb ein, in die Kammern des Schloſſes. Sie hatte wohl ſiebentauſend ſolcher Koͤrbe mit ſo raren Voͤgeln im Schloſſe.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; ſie war ſchoͤner als alle andern Maͤdchen, die, und dann ein garſchoͤner Juͤngling, Namens Joringel, hatten ſich zuſammen verſprochen. Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr groͤßtes Ver- gnuͤgen eins am andern. Damit ſie nun einsmalen vertraut zuſammen reden koͤnnten, gingen ſie in den Wald ſpatzieren. Huͤte dich, ſagte Joringel, daß du nicht zu nah’ an das Schloß
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Brunnen hatte. Hier laßt uns bleiben, ſagte Vater Stil-
ling, und ſetzte ſich nieder; Mariechen nahm ihren Korb
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in ſeiner Seele wieder die egyptiſche Wuͤſte vor ſich, worin-
nen er gern Antonius geworden waͤre; bald darauf ſah er den
Brunnen der Meluſine vor ſich, und wuͤnſchte, daß er Ray-
mund waͤre; dann vereinigten ſich beide Ideen, und es wurde
eine fromme romantiſche Empfindung daraus, die ihm alles
Schoͤne und Gute dieſer einſamen Gegend mit hoͤchſter Wol-
luſt ſchmecken ließ. Vater Stilling ſtand endlich auf und
ſagte: Kinder bleibt ihr hier, ich will ein wenig herumgehen
und abſtaͤndig Holz ſuchen, ich will zuweilen rufen, ihr ant-
wortet mir dann, damit ich euch nicht verliere. Er ging.
Indeſſen ſaßen Mariechen und Heinrich beiſammen
und waren vertraulich. Erzaͤhle mir doch, Baaſe! ſagte Hein-
rich, die Hiſtorie von Joringel und Jorinde noch einmal.
Mariechen erzaͤhlte:
„Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen
dicken Wald, darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das
war eine Erzzauberinn. Am Tage machte ſie ſich bald zur
Katze, oder zum Haaſen, oder zur Nachteule; des Abends aber
wurde ſie ordentlich wieder wie ein Menſch geſtaltet. Sie
konnte das Wild und die Voͤgel herbeilocken, und dann ſchlach-
tete ſie’s, kochte und bratete es. Wenn Jemand auf hundert
Schritte dem Schloß nahe kam, ſo mußte er ſtille ſtehen und
konnte ſich nicht von der Stelle bewegen, bis ſie ihn los ſprach:
wenn aber eine reine, keuſche Jungfer in den Kreis kam, ſo
verwandelte ſie dieſelbe in einen Vogel und ſperrte ſie dann in
einen Korb ein, in die Kammern des Schloſſes. Sie hatte wohl
ſiebentauſend ſolcher Koͤrbe mit ſo raren Voͤgeln im Schloſſe.
Nun war einmal eine Jungfer, die hieß Jorinde; ſie war
ſchoͤner als alle andern Maͤdchen, die, und dann ein garſchoͤner
Juͤngling, Namens Joringel, hatten ſich zuſammen verſprochen.
Sie waren in den Brauttagen, und hatten ihr groͤßtes Ver-
gnuͤgen eins am andern. Damit ſie nun einsmalen vertraut
zuſammen reden koͤnnten, gingen ſie in den Wald ſpatzieren.
Huͤte dich, ſagte Joringel, daß du nicht zu nah’ an das Schloß
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/94>, abgerufen am 24.11.2024.
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