kommst! Es war ein schöner Abend, die Sonne schien zwischen den Stämmen der Bäume hell ins dunkle Grün des Waldes, und die Turteltaube sang kläglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, setzte sich hin in Sonnenschein und klagte. Joringel klagte auch; sie waren so bestürzt, als wenn sie hätten sterben sollen; sie sahen sich um, waren irre, und wußten nicht, wohin sie nach Hause gehen sollten. Noch halb stand die Sonne über dem Berg und halb war sie unter. Jo- ringel sah durchs Gebüsch und sah die alte Mauer des Schlos- ses nah bei sich, er erschrack und wurde todtbang, Jorinde sang:
Mein Vögelein mit dem Ringelein roth, Singt Leide Leide Leide; Es singt dem Täubelein seinen Tod, Singt Leide Lei -- Zicküth Zicküth Zücküth.
Joringel sah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach- tigal verwandelt, die sang Zicküth Zicküth. Eine Nachteule mit glühenden Augen flog dreimal um sie herum und schrie dreimal Schu -- hu -- hu -- hu! Joringel konnte sich nicht regen; er stand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un- ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine krumme Frau aus diesem Strauch hervor, gelb und ma- ger, große rothe Augen, krumme Nase, die mit der Spitze an's Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und trug sie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts sagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end- lich kam das Weib wieder und sagte mit dumpfer Stimme: Grüß dich, Zachiel! Wenn's Möndel in's Körbel scheint, bind' los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, sie möchte ihm seine Jorinde wieder geben; aber sie sagte, er sollte sie nie wieder haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umsonst. Nu! was soll mir geschehen? Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da hütet er die Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei; endlich träumte er einmal des
kommſt! Es war ein ſchoͤner Abend, die Sonne ſchien zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume hell ins dunkle Gruͤn des Waldes, und die Turteltaube ſang klaͤglich auf den alten Maibuchen. Jorinde weinte zuweilen, ſetzte ſich hin in Sonnenſchein und klagte. Joringel klagte auch; ſie waren ſo beſtuͤrzt, als wenn ſie haͤtten ſterben ſollen; ſie ſahen ſich um, waren irre, und wußten nicht, wohin ſie nach Hauſe gehen ſollten. Noch halb ſtand die Sonne uͤber dem Berg und halb war ſie unter. Jo- ringel ſah durchs Gebuͤſch und ſah die alte Mauer des Schloſ- ſes nah bei ſich, er erſchrack und wurde todtbang, Jorinde ſang:
Mein Voͤgelein mit dem Ringelein roth, Singt Leide Leide Leide; Es ſingt dem Taͤubelein ſeinen Tod, Singt Leide Lei — Zicküth Zicküth Zücküth.
Joringel ſah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach- tigal verwandelt, die ſang Zickuͤth Zickuͤth. Eine Nachteule mit gluͤhenden Augen flog dreimal um ſie herum und ſchrie dreimal Schu — hu — hu — hu! Joringel konnte ſich nicht regen; er ſtand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un- ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam eine krumme Frau aus dieſem Strauch hervor, gelb und ma- ger, große rothe Augen, krumme Naſe, die mit der Spitze an’s Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und trug ſie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts ſagen, nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end- lich kam das Weib wieder und ſagte mit dumpfer Stimme: Gruͤß dich, Zachiel! Wenn’s Moͤndel in’s Koͤrbel ſcheint, bind’ los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel vor dem Weib auf die Knie, und bat, ſie moͤchte ihm ſeine Jorinde wieder geben; aber ſie ſagte, er ſollte ſie nie wieder haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber alles umſonſt. Nu! was ſoll mir geſchehen? Joringel ging fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da huͤtet er die Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum, aber nicht zu nahe dabei; endlich traͤumte er einmal des
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kommſt! Es war ein ſchoͤner Abend, die Sonne ſchien zwiſchen
den Staͤmmen der Baͤume hell ins dunkle Gruͤn des Waldes,
und die Turteltaube ſang klaͤglich auf den alten Maibuchen.
Jorinde weinte zuweilen, ſetzte ſich hin in Sonnenſchein und
klagte. Joringel klagte auch; ſie waren ſo beſtuͤrzt, als wenn
ſie haͤtten ſterben ſollen; ſie ſahen ſich um, waren irre, und
wußten nicht, wohin ſie nach Hauſe gehen ſollten. Noch halb
ſtand die Sonne uͤber dem Berg und halb war ſie unter. Jo-
ringel ſah durchs Gebuͤſch und ſah die alte Mauer des Schloſ-
ſes nah bei ſich, er erſchrack und wurde todtbang, Jorinde ſang:
Mein Voͤgelein mit dem Ringelein roth,
Singt Leide Leide Leide;
Es ſingt dem Taͤubelein ſeinen Tod,
Singt Leide Lei — Zicküth Zicküth Zücküth.
Joringel ſah nach Jorinde. Jorinde war in eine Nach-
tigal verwandelt, die ſang Zickuͤth Zickuͤth. Eine Nachteule
mit gluͤhenden Augen flog dreimal um ſie herum und ſchrie
dreimal Schu — hu — hu — hu! Joringel konnte ſich nicht
regen; er ſtand da, wie ein Stein, konnte nicht weinen, nicht
reden, nicht Hand noch Fuß regen. Nun war die Sonne un-
ter; die Eule flog in einen Strauch, und gleich darauf kam
eine krumme Frau aus dieſem Strauch hervor, gelb und ma-
ger, große rothe Augen, krumme Naſe, die mit der Spitze
an’s Kinn reichte. Sie murmelte, fing die Nachtigal und
trug ſie auf der Hand fort. Joringel konnte nichts ſagen,
nicht von der Stelle kommen; die Nachtigal war fort; end-
lich kam das Weib wieder und ſagte mit dumpfer Stimme:
Gruͤß dich, Zachiel! Wenn’s Moͤndel in’s Koͤrbel ſcheint, bind’
los, Zachiel, zu guter Stund! Da wurd Joringel los; er fiel
vor dem Weib auf die Knie, und bat, ſie moͤchte ihm ſeine
Jorinde wieder geben; aber ſie ſagte, er ſollte ſie nie wieder
haben und ging fort. Er rief, er weinte, er jammerte, aber
alles umſonſt. Nu! was ſoll mir geſchehen? Joringel ging
fort und kam endlich in ein fremdes Dorf; da huͤtet er die
Schaafe lange Zeit. Oft ging er rund um das Schloß herum,
aber nicht zu nahe dabei; endlich traͤumte er einmal des
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/95>, abgerufen am 24.11.2024.
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