"O möchten wir doch in einem Augenblick sterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?"
Der würde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end- lich zu uns kommen.
"Ich würde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden würde."
Höre, Dortchen! du bist schon lange her besonders schwer- müthig gewesen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, du machst mich mit dir betrübt. Warum bist du so gern mit mir allein! Meine Schwestern glauben, du habest sie nicht lieb.
"Doch liebe ich sie recht von Herzen."
Du weinst oft, als wenn du mißmuthig wärest; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Hast du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind -- das dich quält? Sag' es mir. Ich werde dir Ruhe schaffen; es koste auch was es wolle.
"O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unsere El- tern und Schwestern lieb, ja, ich habe alle Menschen lieb. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Früh- ling sehe, wie Alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worein ich nicht gehörte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder dürres Kraut finde, dann werden mir die Thränen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling."
Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlos- ses auf die Seite des Berges, und empfanden die kühle Luft vom Rhein her, und sahen, wie sie mit den langen, dürren Grashalmen und Epheublättern an den zerfallenen Mauren spielte und darum pfiff. Hier ist recht mein Ort, sagte Dort- chen, hier wünscht' ich zu wohnen. Erzähle mir doch noch einmal die Geschichte vom Johann Hübner, der hier auf
„O moͤchten wir doch in einem Augenblick ſterben. Aber wo bliebe dann mein lieber Junge?“
Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end- lich zu uns kommen.
„Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er auch fromm werden wuͤrde.“
Hoͤre, Dortchen! du biſt ſchon lange her beſonders ſchwer- muͤthig geweſen. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, du machſt mich mit dir betruͤbt. Warum biſt du ſo gern mit mir allein! Meine Schweſtern glauben, du habeſt ſie nicht lieb.
„Doch liebe ich ſie recht von Herzen.“
Du weinſt oft, als wenn du mißmuthig waͤreſt; das thut mir dann leid. Ich werde auch traurig. Haſt du Etwas auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir. Ich werde dir Ruhe ſchaffen; es koſte auch was es wolle.
„O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unſere El- tern und Schweſtern lieb, ja, ich habe alle Menſchen lieb. Aber ich will dir ſagen, wie es mir iſt. Wenn ich im Fruͤh- ling ſehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen, die Blumen und die Kraͤuter, ſo iſt mir, als wenn es mich gar nicht anginge; es iſt mir dann, als wenn ich in einer Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde, dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird ſo wohl, ſo wohl, daß ich es dir nicht ſagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonſten machte mich das alles betruͤbt, und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling.“
Ich kenne das nicht. So viel aber iſt doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht.
Indem ſie ſo redeten, kamen ſie zu den Ruinen des Schloſ- ſes auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft vom Rhein her, und ſahen, wie ſie mit den langen, duͤrren Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren ſpielte und darum pfiff. Hier iſt recht mein Ort, ſagte Dort- chen, hier wuͤnſcht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch einmal die Geſchichte vom Johann Huͤbner, der hier auf
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„O moͤchten wir doch in einem Augenblick ſterben. Aber
wo bliebe dann mein lieber Junge?“
Der wuͤrde hier bleiben, und wohl erzogen werden, und end-
lich zu uns kommen.
„Ich wuͤrde aber doch viele Sorge um ihn haben, ob er
auch fromm werden wuͤrde.“
Hoͤre, Dortchen! du biſt ſchon lange her beſonders ſchwer-
muͤthig geweſen. Wenn ich die Wahrheit ſagen ſoll, du machſt
mich mit dir betruͤbt. Warum biſt du ſo gern mit mir allein!
Meine Schweſtern glauben, du habeſt ſie nicht lieb.
„Doch liebe ich ſie recht von Herzen.“
Du weinſt oft, als wenn du mißmuthig waͤreſt; das thut
mir dann leid. Ich werde auch traurig. Haſt du Etwas
auf dem Herzen, liebes Kind — das dich quaͤlt? Sag’ es mir.
Ich werde dir Ruhe ſchaffen; es koſte auch was es wolle.
„O nein! ich bin nicht mißmuthig, liebes Kind! ich bin
nicht unzufrieden. Ich habe dich lieb, ich habe unſere El-
tern und Schweſtern lieb, ja, ich habe alle Menſchen lieb.
Aber ich will dir ſagen, wie es mir iſt. Wenn ich im Fruͤh-
ling ſehe, wie Alles aufgeht, die Blaͤtter an den Baͤumen,
die Blumen und die Kraͤuter, ſo iſt mir, als wenn es mich
gar nicht anginge; es iſt mir dann, als wenn ich in einer
Welt waͤre, worein ich nicht gehoͤrte. Sobald ich aber ein
gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder duͤrres Kraut finde,
dann werden mir die Thraͤnen los, und mir wird ſo wohl,
ſo wohl, daß ich es dir nicht ſagen kann; und doch bin ich
nie freudig dabei. Sonſten machte mich das alles betruͤbt,
und ich war nie froͤhlicher, als im Fruͤhling.“
Ich kenne das nicht. So viel aber iſt doch wahr, daß es
mich recht empfindlich macht.
Indem ſie ſo redeten, kamen ſie zu den Ruinen des Schloſ-
ſes auf die Seite des Berges, und empfanden die kuͤhle Luft
vom Rhein her, und ſahen, wie ſie mit den langen, duͤrren
Grashalmen und Epheublaͤttern an den zerfallenen Mauren
ſpielte und darum pfiff. Hier iſt recht mein Ort, ſagte Dort-
chen, hier wuͤnſcht’ ich zu wohnen. Erzaͤhle mir doch noch
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/62>, abgerufen am 24.11.2024.
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