Da geht der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Däm- merung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was Unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast im- mer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt von Menschen missen können, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann ersuchte, mit ihr nach dem Geisenberger Schlosse zu spatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeschlagen. Er ging mit ihr. Sobald sie in den Wald kamen, schlungen sie sich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Bäume und dem vielfältigen Zwitschern der Vögel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
"Was meynst du, Wilhelm, sollte man sich wohl im Himmel kennen?"
O ja! liebes Dortchen! Christus sagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hölle; da- her glaub' ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
"O Wilhelm! wie sehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum- mer, in lauter himmlischer Lust und Vergnügen werden bei einander seyn! Mich dünkt auch immer, ich könnte im Him- mel ohne dich nicht selig seyn. Ja, lieber Wilhelm! ge- wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hör' einmal, ich wünsche das nun so herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das so wünschet; er würde es nicht so gemacht haben, wenn ich unrecht wünschte, und wenn es nicht so wäre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menschen suchen, und dann werd ich selig seyn!"
Wir wollen uns bei einander begraben lassen, so brauchen wir nicht lange zu suchen.
Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm- merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im- mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt, als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren. Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
„Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im Himmel kennen?“
O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da- her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit kennen.
„O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum- mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him- mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge- wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn!“
Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen wir nicht lange zu ſuchen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0061"n="53"/>
Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann<lb/>
oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm-<lb/>
merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie<lb/>
fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende<lb/>
unten an dem Geiſenberg. <hirendition="#g">Wilhelm</hi> begleitete ſie faſt im-<lb/>
mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas<lb/>
aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von<lb/>
Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch<lb/>
empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.</p><lb/><p>Beinahe anderthalb Jahre war <hirendition="#g">Heinrich Stilling</hi> alt,<lb/>
als <hirendition="#g">Dortchen</hi> an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann<lb/>
erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren.<lb/>
Noch niemalen hatte ihr <hirendition="#g">Wilhelm</hi> etwas abgeſchlagen. Er<lb/>
ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie<lb/>ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter<lb/>
dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der<lb/>
Voͤgel den Berg hinauf. <hirendition="#g">Dortchen</hi> fing an:</p><lb/><p>„Was meynſt du, <hirendition="#g">Wilhelm</hi>, ſollte man ſich wohl im<lb/>
Himmel kennen?“</p><lb/><p>O ja! liebes <hirendition="#g">Dortchen</hi>! Chriſtus ſagt ja von dem reichen<lb/>
Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt<lb/>
habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da-<lb/>
her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit<lb/>
kennen.</p><lb/><p>„O <hirendition="#g">Wilhelm</hi>! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran<lb/>
denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum-<lb/>
mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei<lb/>
einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him-<lb/>
mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber <hirendition="#g">Wilhelm</hi>! ge-<lb/>
wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich<lb/>
wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und<lb/>
mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo<lb/>
gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht<lb/>ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen<lb/>
Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn!“</p><lb/><p>Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen<lb/>
wir nicht lange zu ſuchen.</p><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[53/0061]
Da geht der troͤſtliche Freund wieder von uns, ſagte ſie dann
oft, und ſehnte ſich weit weg in den Wald, zur Zeit der Daͤm-
merung. Nichts aber war ihr ruͤhrender, als der Mond; ſie
fuͤhlte dann was Unausſprechliches, und ging ganze Abende
unten an dem Geiſenberg. Wilhelm begleitete ſie faſt im-
mer und redete ſehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas
aͤhnliches in ihrem Charakter. Sie haͤtten die ganze Welt von
Menſchen miſſen koͤnnen, nur Eins das Andere nicht: dennoch
empfanden ſie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenſchen.
Beinahe anderthalb Jahre war Heinrich Stilling alt,
als Dortchen an einem Sonntag Nachmittag ihren Mann
erſuchte, mit ihr nach dem Geiſenberger Schloſſe zu ſpatzieren.
Noch niemalen hatte ihr Wilhelm etwas abgeſchlagen. Er
ging mit ihr. Sobald ſie in den Wald kamen, ſchlungen ſie
ſich in ihre Arme und gingen Schritt vor Schritt unter
dem Schatten der Baͤume und dem vielfaͤltigen Zwitſchern der
Voͤgel den Berg hinauf. Dortchen fing an:
„Was meynſt du, Wilhelm, ſollte man ſich wohl im
Himmel kennen?“
O ja! liebes Dortchen! Chriſtus ſagt ja von dem reichen
Mann, daß er Lazarum in dem Schooße Abrahams gekannt
habe, und noch dazu war der reiche Mann in der Hoͤlle; da-
her glaub’ ich gewiß, wir werden uns in jener Ewigkeit
kennen.
„O Wilhelm! wie ſehr freue ich mich, wenn ich daran
denke, daß wir dann die ganze Ewigkeit durch ganz ohne Kum-
mer, in lauter himmliſcher Luſt und Vergnuͤgen werden bei
einander ſeyn! Mich duͤnkt auch immer, ich koͤnnte im Him-
mel ohne dich nicht ſelig ſeyn. Ja, lieber Wilhelm! ge-
wiß! gewiß wir werden uns da kennen! Hoͤr’ einmal, ich
wuͤnſche das nun ſo herzlich! Gott hat ja meine Seele und
mein Herz gemacht, das ſo wuͤnſchet; er wuͤrde es nicht ſo
gemacht haben, wenn ich unrecht wuͤnſchte, und wenn es nicht
ſo waͤre! Ja, ich werde dich kennen, und dich unter allen
Menſchen ſuchen, und dann werd ich ſelig ſeyn!“
Wir wollen uns bei einander begraben laſſen, ſo brauchen
wir nicht lange zu ſuchen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/61>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.