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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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wenn der Mensch sein männliches Alter erreicht hat; er glaubt
alsdann alles so gut zu verstehen als seine Eltern.

Während dieser weisen Rede, wobei alle Anwesenden höchst
aufmerksam waren, saß Wilhelm in tiefen Betrachtungen.
Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und sahe starr ge-
rade vor sich hin. Hum! sagte er, alles, was die Frau er-
zählt hat, scheint mir verdächtig. Im Anfang sagte sie, ihr
Vater wäre Pastor zu ... zu ...

Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land.

Ja, da war es. Und am Ende sagte sie, ihr Vater sey
ein Schuhflicker gewesen. Alle Anwesenden schlugen die Hände
zusammen, und entsetzten sich sehr. Nun erkannte man, wa-
rum die Frau weggelaufen war; man entschloß sich also, an
jeder Thüre und Oeffnung im Hause vorsichtige Klingen und
Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil-
ling'schen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zusam-
menhang der Dinge einzusehen gelernt hat.

Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum?
kann ich eben nicht sagen. Sie säugte ihren Heinrich alle
Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge
war auch hübsch dick und fett. Die erfahrensten Nachbarin-
nen konnten schon gleich nach der Geburt in dem Gesichte des
Kindes eine völlige Aehnlichkeit mit seinem Vater entdecken.
Besonders aber wollte man auch schon auf dem linken obern
Augenlied die Grundlage einer künftigen Warze spüren, als
welche der Vater daselbst hatte. Dennoch aber mußte eine
verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu diesem falschen
Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der
Mutter Gesichtszüge und ihr sanftes, gefühliges Herz gänzlich.

Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwer-
muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr,
aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig
die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz
in Thränen zu verwandeln, in Thränen ohne Harm und Kum-
mer. Ging die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrach-
tete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß
der seyn, der sie gemacht hat! Ging sie unter, so weinte sie.

wenn der Menſch ſein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt
alsdann alles ſo gut zu verſtehen als ſeine Eltern.

Waͤhrend dieſer weiſen Rede, wobei alle Anweſenden hoͤchſt
aufmerkſam waren, ſaß Wilhelm in tiefen Betrachtungen.
Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und ſahe ſtarr ge-
rade vor ſich hin. Hum! ſagte er, alles, was die Frau er-
zaͤhlt hat, ſcheint mir verdaͤchtig. Im Anfang ſagte ſie, ihr
Vater waͤre Paſtor zu … zu …

Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land.

Ja, da war es. Und am Ende ſagte ſie, ihr Vater ſey
ein Schuhflicker geweſen. Alle Anweſenden ſchlugen die Haͤnde
zuſammen, und entſetzten ſich ſehr. Nun erkannte man, wa-
rum die Frau weggelaufen war; man entſchloß ſich alſo, an
jeder Thuͤre und Oeffnung im Hauſe vorſichtige Klingen und
Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil-
ling’ſchen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zuſam-
menhang der Dinge einzuſehen gelernt hat.

Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum?
kann ich eben nicht ſagen. Sie ſaͤugte ihren Heinrich alle
Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge
war auch huͤbſch dick und fett. Die erfahrenſten Nachbarin-
nen konnten ſchon gleich nach der Geburt in dem Geſichte des
Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit ſeinem Vater entdecken.
Beſonders aber wollte man auch ſchon auf dem linken obern
Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze ſpuͤren, als
welche der Vater daſelbſt hatte. Dennoch aber mußte eine
verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu dieſem falſchen
Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der
Mutter Geſichtszuͤge und ihr ſanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich.

Vor und nach verfiel Dortchen in eine ſanfte Schwer-
muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr,
aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beſtaͤndig
die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz ſchien ſich ganz
in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum-
mer. Ging die Sonne ſchoͤn auf, ſo weinte ſie, und betrach-
tete ſie tiefſinnig; ſprach auch wohl zuweilen: Wie ſchoͤn muß
der ſeyn, der ſie gemacht hat! Ging ſie unter, ſo weinte ſie.

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[52/0060] wenn der Menſch ſein maͤnnliches Alter erreicht hat; er glaubt alsdann alles ſo gut zu verſtehen als ſeine Eltern. Waͤhrend dieſer weiſen Rede, wobei alle Anweſenden hoͤchſt aufmerkſam waren, ſaß Wilhelm in tiefen Betrachtungen. Er hatte eine Hand an den Backen gelegt, und ſahe ſtarr ge- rade vor ſich hin. Hum! ſagte er, alles, was die Frau er- zaͤhlt hat, ſcheint mir verdaͤchtig. Im Anfang ſagte ſie, ihr Vater waͤre Paſtor zu … zu … Mariechen. Zu Goldingen im Barchinger Land. Ja, da war es. Und am Ende ſagte ſie, ihr Vater ſey ein Schuhflicker geweſen. Alle Anweſenden ſchlugen die Haͤnde zuſammen, und entſetzten ſich ſehr. Nun erkannte man, wa- rum die Frau weggelaufen war; man entſchloß ſich alſo, an jeder Thuͤre und Oeffnung im Hauſe vorſichtige Klingen und Klammern zu machen, und das wird auch Niemand der Stil- ling’ſchen Familie verdenken, wer einigermaßen den Zuſam- menhang der Dinge einzuſehen gelernt hat. Dortchen redete die ganze Zeit durch nichts. Warum? kann ich eben nicht ſagen. Sie ſaͤugte ihren Heinrich alle Augenblicke, denn das war nun einmal ihr Alles. Der Junge war auch huͤbſch dick und fett. Die erfahrenſten Nachbarin- nen konnten ſchon gleich nach der Geburt in dem Geſichte des Kindes eine voͤllige Aehnlichkeit mit ſeinem Vater entdecken. Beſonders aber wollte man auch ſchon auf dem linken obern Augenlied die Grundlage einer kuͤnftigen Warze ſpuͤren, als welche der Vater daſelbſt hatte. Dennoch aber mußte eine verborgene Parteilichkeit alle Nachbarinnen zu dieſem falſchen Zeugniß bewogen haben; denn der Knabe hatte und bekam der Mutter Geſichtszuͤge und ihr ſanftes, gefuͤhliges Herz gaͤnzlich. Vor und nach verfiel Dortchen in eine ſanfte Schwer- muth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnuͤgen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beſtaͤndig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz ſchien ſich ganz in Thraͤnen zu verwandeln, in Thraͤnen ohne Harm und Kum- mer. Ging die Sonne ſchoͤn auf, ſo weinte ſie, und betrach- tete ſie tiefſinnig; ſprach auch wohl zuweilen: Wie ſchoͤn muß der ſeyn, der ſie gemacht hat! Ging ſie unter, ſo weinte ſie.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/60>, abgerufen am 24.11.2024.