Es ist bekannt, daß der Landgraf von Hessen-Kassel in diesem Frühjahr die Kurwürde annahm, zu welchem Ende große Feierlichkeiten veranstaltet wurden. Während dieser Zeit, Frei- tags den 20. Mai, bekam Stilling des Morgens früh einen Brief durch eine Staffette von Kassel, in welchem er ersucht wurde, augenblicklich Post zu nehmen und dorthin zu kommen, denn der Prinz Karl von Hessen aus Dänemark sey da, er habe seinen Bruder unerwartet überrascht, und wünsche nun auch Stilling zu sprechen. Dieser machte sich also sogleich auf, bestellte Post, Elise rüstete sich auch, und um halb sechs saßen Beide schon in ihrer Kutsche; Abends um neun Uhr kamen sie bei den Geschwistern Cnyrim in Kassel an. Die beiden folgenden Tage verlebte Stilling äußerst vergnügte Stunden mit dem Prinzen: Sachen von der äußersten Wichtigkeit, das Reich Gottes betreffend, wurden verhandelt. Prinz Karl ist ein wahrer Christ; er hängt mit dem höchsten Grad der Liebe und der Verehrung am Erlöser, er lebt und stirbt für ihn, dabei hat er seltene und außerordentliche Kenntnisse und Erfahrungen, die aber bei weitem nicht für Jedermann sind und von denen hier auf keinen Fall die Rede seyn kann. Nach einem christlichen und liebevollen Abschied von diesem großen und erleuchteten Für- sten, reisten also Stilling und Elise, Montags den 23. Mai, wieder von Kassel ab, und kamen des Abends in Marburg an.
Diesen Sommer waren Stillings Kollegien sehr schlecht besetzt. Hätte er im vorigen Herbst nicht die neue Aussicht in Karlsruhe bekommen, so würde er sich nicht haben trösten können. Jetzt nahten nun die Pfingstfeiertage heran. Stilling und Elise hatten sich schon lange vorgenommen, in diesen Ferien ihre Freunde zu Wittgenstein zu besuchen, und weil Stil- lings Geburtsdörfchen nur fünf Stunden von dort entfernt ist, so wollten sie zusammen nach Tiefenbach und Floren- burg wallfahrten und alle die Oerter besuchen, die Stillings Jugend- und Jünglingsjahre -- wenigstens ihnen Bei- den -- merkwürdig gemacht hatte. Stilling freute sich sehr, diese Oerter, die er in sieben bis acht und dreißig Jahren nicht
Es iſt bekannt, daß der Landgraf von Heſſen-Kaſſel in dieſem Fruͤhjahr die Kurwuͤrde annahm, zu welchem Ende große Feierlichkeiten veranſtaltet wurden. Waͤhrend dieſer Zeit, Frei- tags den 20. Mai, bekam Stilling des Morgens fruͤh einen Brief durch eine Staffette von Kaſſel, in welchem er erſucht wurde, augenblicklich Poſt zu nehmen und dorthin zu kommen, denn der Prinz Karl von Heſſen aus Daͤnemark ſey da, er habe ſeinen Bruder unerwartet uͤberraſcht, und wuͤnſche nun auch Stilling zu ſprechen. Dieſer machte ſich alſo ſogleich auf, beſtellte Poſt, Eliſe ruͤſtete ſich auch, und um halb ſechs ſaßen Beide ſchon in ihrer Kutſche; Abends um neun Uhr kamen ſie bei den Geſchwiſtern Cnyrim in Kaſſel an. Die beiden folgenden Tage verlebte Stilling aͤußerſt vergnuͤgte Stunden mit dem Prinzen: Sachen von der aͤußerſten Wichtigkeit, das Reich Gottes betreffend, wurden verhandelt. Prinz Karl iſt ein wahrer Chriſt; er haͤngt mit dem hoͤchſten Grad der Liebe und der Verehrung am Erloͤſer, er lebt und ſtirbt fuͤr ihn, dabei hat er ſeltene und außerordentliche Kenntniſſe und Erfahrungen, die aber bei weitem nicht fuͤr Jedermann ſind und von denen hier auf keinen Fall die Rede ſeyn kann. Nach einem chriſtlichen und liebevollen Abſchied von dieſem großen und erleuchteten Fuͤr- ſten, reisten alſo Stilling und Eliſe, Montags den 23. Mai, wieder von Kaſſel ab, und kamen des Abends in Marburg an.
Dieſen Sommer waren Stillings Kollegien ſehr ſchlecht beſetzt. Haͤtte er im vorigen Herbſt nicht die neue Ausſicht in Karlsruhe bekommen, ſo wuͤrde er ſich nicht haben troͤſten koͤnnen. Jetzt nahten nun die Pfingſtfeiertage heran. Stilling und Eliſe hatten ſich ſchon lange vorgenommen, in dieſen Ferien ihre Freunde zu Wittgenſtein zu beſuchen, und weil Stil- lings Geburtsdoͤrfchen nur fuͤnf Stunden von dort entfernt iſt, ſo wollten ſie zuſammen nach Tiefenbach und Floren- burg wallfahrten und alle die Oerter beſuchen, die Stillings Jugend- und Juͤnglingsjahre — wenigſtens ihnen Bei- den — merkwuͤrdig gemacht hatte. Stilling freute ſich ſehr, dieſe Oerter, die er in ſieben bis acht und dreißig Jahren nicht
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Es iſt bekannt, daß der Landgraf von Heſſen-Kaſſel in
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tags den 20. Mai, bekam Stilling des Morgens fruͤh einen
Brief durch eine Staffette von Kaſſel, in welchem er erſucht
wurde, augenblicklich Poſt zu nehmen und dorthin zu kommen,
denn der Prinz Karl von Heſſen aus Daͤnemark ſey da,
er habe ſeinen Bruder unerwartet uͤberraſcht, und wuͤnſche nun
auch Stilling zu ſprechen. Dieſer machte ſich alſo ſogleich
auf, beſtellte Poſt, Eliſe ruͤſtete ſich auch, und um halb ſechs
ſaßen Beide ſchon in ihrer Kutſche; Abends um neun Uhr kamen
ſie bei den Geſchwiſtern Cnyrim in Kaſſel an. Die beiden
folgenden Tage verlebte Stilling aͤußerſt vergnuͤgte Stunden
mit dem Prinzen: Sachen von der aͤußerſten Wichtigkeit, das
Reich Gottes betreffend, wurden verhandelt. Prinz Karl iſt
ein wahrer Chriſt; er haͤngt mit dem hoͤchſten Grad der Liebe
und der Verehrung am Erloͤſer, er lebt und ſtirbt fuͤr ihn, dabei
hat er ſeltene und außerordentliche Kenntniſſe und Erfahrungen,
die aber bei weitem nicht fuͤr Jedermann ſind und von denen
hier auf keinen Fall die Rede ſeyn kann. Nach einem chriſtlichen
und liebevollen Abſchied von dieſem großen und erleuchteten Fuͤr-
ſten, reisten alſo Stilling und Eliſe, Montags den 23. Mai,
wieder von Kaſſel ab, und kamen des Abends in Marburg an.
Dieſen Sommer waren Stillings Kollegien ſehr ſchlecht
beſetzt. Haͤtte er im vorigen Herbſt nicht die neue Ausſicht in
Karlsruhe bekommen, ſo wuͤrde er ſich nicht haben troͤſten
koͤnnen. Jetzt nahten nun die Pfingſtfeiertage heran. Stilling
und Eliſe hatten ſich ſchon lange vorgenommen, in dieſen Ferien
ihre Freunde zu Wittgenſtein zu beſuchen, und weil Stil-
lings Geburtsdoͤrfchen nur fuͤnf Stunden von dort entfernt iſt,
ſo wollten ſie zuſammen nach Tiefenbach und Floren-
burg wallfahrten und alle die Oerter beſuchen, die Stillings
Jugend- und Juͤnglingsjahre — wenigſtens ihnen Bei-
den — merkwuͤrdig gemacht hatte. Stilling freute ſich ſehr,
dieſe Oerter, die er in ſieben bis acht und dreißig Jahren nicht
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/584>, abgerufen am 23.11.2024.
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