Lavater wieder, um diesen freundlichen Soldaten um Schutz gegen einen Andern anzusprechen, und nun war dieser Mensch wüthend gegen ihn, und schoß ihn.
Wie ist nun diese fürchterliche Veränderung in dem Ge- müth dieses unglücklichen jungen Mannes anders erklärbar, als folgendergestalt: er war ein gebildeter Mann, der Lava- ters Schriften kannte -- denn jeder Schweizer, der nur lesen konnte, las sie -- zugleich war er revolutionssüchtig, wie sehr viele Waadtländer, folglich nicht allein von ganz ent- gegengesetzter Denkungsart, sondern auch wegen Lavaters Energie in Beziehung auf Religion und Vaterland, wüthend gegen ihn aufgebracht: denn nicht gar lange vorher waren seine Briefe an den französischen Director Reubel, und an das Directorium selbst herausgekommen, gedruckt und häufig gelesen worden. Als ihm nun Lavater Wein und Brod brachte, da kannte er ihn noch nicht; nach dem Hinweggehen aber sprach er mit den Umstehenden, und erfuhr nun, daß dieser so freundliche, wohlthätige Mann der Pfarrer Lavater sey; jetzt gerieth er in Wuth, die noch ein kleiner Weinrausch vermehrte; gerade jetzt kam nun unglücklicher Weise der gute Mann zu ihm, und wurde geschossen. So ist alles leicht zu begreifen und erklärbar. In dieser Ueberzeugung behauptete ich: Lavater sey ein Blutzeuge der Wahrheit: denn er wurde wegen seiner religiösen und politischen Gesinnung und Zeugnisse tödlich verwundet.
Lavaters Tod war gleichsam das Signal zur großen und herrlichen Entwicklung der Schicksale Stillings, die noch immer in ein undurchdringliches Dunkel der Zukunft verhüllt waren. Um die ganze Sache recht deutlich und nach der Wahr- heit ins Licht zu stellen, muß ich seine Lage ausführlich schil- dern; der christliche Leser wird finden, daß es der Mühe werth ist.
Stillings Hausgenossen, die er zu versorgen hatte, wa- ren folgende Personen:
1. Vater Wilhelm Stilling, der aber nun so weit ge- kommen war, daß ihm ein junges Mädchen, wie Mariechen, nicht mehr aufwarten konnte, sondern es wurde
Lavater wieder, um dieſen freundlichen Soldaten um Schutz gegen einen Andern anzuſprechen, und nun war dieſer Menſch wuͤthend gegen ihn, und ſchoß ihn.
Wie iſt nun dieſe fuͤrchterliche Veraͤnderung in dem Ge- muͤth dieſes ungluͤcklichen jungen Mannes anders erklaͤrbar, als folgendergeſtalt: er war ein gebildeter Mann, der Lava- ters Schriften kannte — denn jeder Schweizer, der nur leſen konnte, las ſie — zugleich war er revolutionsſuͤchtig, wie ſehr viele Waadtlaͤnder, folglich nicht allein von ganz ent- gegengeſetzter Denkungsart, ſondern auch wegen Lavaters Energie in Beziehung auf Religion und Vaterland, wuͤthend gegen ihn aufgebracht: denn nicht gar lange vorher waren ſeine Briefe an den franzoͤſiſchen Director Reubel, und an das Directorium ſelbſt herausgekommen, gedruckt und haͤufig geleſen worden. Als ihm nun Lavater Wein und Brod brachte, da kannte er ihn noch nicht; nach dem Hinweggehen aber ſprach er mit den Umſtehenden, und erfuhr nun, daß dieſer ſo freundliche, wohlthaͤtige Mann der Pfarrer Lavater ſey; jetzt gerieth er in Wuth, die noch ein kleiner Weinrauſch vermehrte; gerade jetzt kam nun ungluͤcklicher Weiſe der gute Mann zu ihm, und wurde geſchoſſen. So iſt alles leicht zu begreifen und erklaͤrbar. In dieſer Ueberzeugung behauptete ich: Lavater ſey ein Blutzeuge der Wahrheit: denn er wurde wegen ſeiner religioͤſen und politiſchen Geſinnung und Zeugniſſe toͤdlich verwundet.
Lavaters Tod war gleichſam das Signal zur großen und herrlichen Entwicklung der Schickſale Stillings, die noch immer in ein undurchdringliches Dunkel der Zukunft verhuͤllt waren. Um die ganze Sache recht deutlich und nach der Wahr- heit ins Licht zu ſtellen, muß ich ſeine Lage ausfuͤhrlich ſchil- dern; der chriſtliche Leſer wird finden, daß es der Muͤhe werth iſt.
Stillings Hausgenoſſen, die er zu verſorgen hatte, wa- ren folgende Perſonen:
1. Vater Wilhelm Stilling, der aber nun ſo weit ge- kommen war, daß ihm ein junges Maͤdchen, wie Mariechen, nicht mehr aufwarten konnte, ſondern es wurde
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Lavater wieder, um dieſen freundlichen Soldaten um Schutz
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Wie iſt nun dieſe fuͤrchterliche Veraͤnderung in dem Ge-
muͤth dieſes ungluͤcklichen jungen Mannes anders erklaͤrbar,
als folgendergeſtalt: er war ein gebildeter Mann, der Lava-
ters Schriften kannte — denn jeder Schweizer, der nur
leſen konnte, las ſie — zugleich war er revolutionsſuͤchtig, wie
ſehr viele Waadtlaͤnder, folglich nicht allein von ganz ent-
gegengeſetzter Denkungsart, ſondern auch wegen Lavaters
Energie in Beziehung auf Religion und Vaterland, wuͤthend
gegen ihn aufgebracht: denn nicht gar lange vorher waren
ſeine Briefe an den franzoͤſiſchen Director Reubel, und an
das Directorium ſelbſt herausgekommen, gedruckt und haͤufig
geleſen worden. Als ihm nun Lavater Wein und Brod
brachte, da kannte er ihn noch nicht; nach dem Hinweggehen
aber ſprach er mit den Umſtehenden, und erfuhr nun, daß
dieſer ſo freundliche, wohlthaͤtige Mann der Pfarrer Lavater
ſey; jetzt gerieth er in Wuth, die noch ein kleiner Weinrauſch
vermehrte; gerade jetzt kam nun ungluͤcklicher Weiſe der gute
Mann zu ihm, und wurde geſchoſſen. So iſt alles leicht zu
begreifen und erklaͤrbar. In dieſer Ueberzeugung behauptete
ich: Lavater ſey ein Blutzeuge der Wahrheit: denn er
wurde wegen ſeiner religioͤſen und politiſchen Geſinnung und
Zeugniſſe toͤdlich verwundet.
Lavaters Tod war gleichſam das Signal zur großen
und herrlichen Entwicklung der Schickſale Stillings, die
noch immer in ein undurchdringliches Dunkel der Zukunft verhuͤllt
waren. Um die ganze Sache recht deutlich und nach der Wahr-
heit ins Licht zu ſtellen, muß ich ſeine Lage ausfuͤhrlich ſchil-
dern; der chriſtliche Leſer wird finden, daß es der Muͤhe werth iſt.
Stillings Hausgenoſſen, die er zu verſorgen hatte, wa-
ren folgende Perſonen:
1. Vater Wilhelm Stilling, der aber nun ſo weit ge-
kommen war, daß ihm ein junges Maͤdchen, wie Mariechen,
nicht mehr aufwarten konnte, ſondern es wurde
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 522. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/530>, abgerufen am 25.11.2024.
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