Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

an, Stillings Vater zu besuchen, ihm widerfuhr eben so
viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann gewesen wäre.
Gott wird ihnen diese edle Gesinnung vergelten, sie ist ihrer
Herzen würdig.

Einige Tage hielt sich Wilhelm bei seinem Sohn auf, und
er sagte mehrmals: diese Zeit ist mir ein Vorgeschmack des
Himmels; vergnügt und seelenvoll reiste er dann wieder mit
seinem Begleiter ab.

Jetzt lebt also nun Stilling in Marburg vollkommen
glücklich und im Segen, seine Ehe ist eine tägliche Quelle
des erhabendsten Vergnügens, das sich auf Erden denken läßt,
denn Selma liebt ihn von ganzer Seele, über Alles in der
Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufhörlich entgegen, und
da ihn seine vielen und langwierigen Leiden ängstlich gemacht
haben, so, daß er immer E[t][ - 1 Zeichen fehlt]as befürchtet, ohne zu wissen
was, so geht ihr ganzes Bestreben dahin, ihn aufzuheitern,
und die Thränen von seinen Augen wegzuwischen, die so leicht
fließen, weil ihre Gänge und Ausflüsse weit und geläufig ge-
worden sind. Sie hat das, was man guten und angenehmen
Ton heißt, ohne viele Gesellschaft zu suchen und zu lieben:
daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch für Menschen
von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder erster Ehe
ist sie Alles, was Stilling nur wünschen kann, sie ist ganz
Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe
nicht sagen, sie hatte alles Vorhergehende gelesen, und mir
Vorwürfe gemacht, daß ich sie gelobt habe; allein ich bin
ihr und meinen Lesern, Gott zum Preis, mehr schuldig; da-
her habe ich nächst Vorhergehendes und Folgendes vor ihr
verborgen, sie ist etwas kurz und gesetzt, hat ein gefälliges
geistvolles Ansehen, und aus ihren blauen Augen und lächeln-
der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen
und Menschenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch
in solchen, die eben nicht geradezu weiblich sind, einen ruhig
forschenden Blick, und immer ein reifes, entscheidendes Ur-
theil, so daß sie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn sein
rascher und thätiger Geist partheiisch ist, er folgt ihr, und

an, Stillings Vater zu beſuchen, ihm widerfuhr eben ſo
viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann geweſen waͤre.
Gott wird ihnen dieſe edle Geſinnung vergelten, ſie iſt ihrer
Herzen wuͤrdig.

Einige Tage hielt ſich Wilhelm bei ſeinem Sohn auf, und
er ſagte mehrmals: dieſe Zeit iſt mir ein Vorgeſchmack des
Himmels; vergnuͤgt und ſeelenvoll reiste er dann wieder mit
ſeinem Begleiter ab.

Jetzt lebt alſo nun Stilling in Marburg vollkommen
gluͤcklich und im Segen, ſeine Ehe iſt eine taͤgliche Quelle
des erhabendſten Vergnuͤgens, das ſich auf Erden denken laͤßt,
denn Selma liebt ihn von ganzer Seele, uͤber Alles in der
Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufhoͤrlich entgegen, und
da ihn ſeine vielen und langwierigen Leiden aͤngſtlich gemacht
haben, ſo, daß er immer E[t][ – 1 Zeichen fehlt]as befuͤrchtet, ohne zu wiſſen
was, ſo geht ihr ganzes Beſtreben dahin, ihn aufzuheitern,
und die Thraͤnen von ſeinen Augen wegzuwiſchen, die ſo leicht
fließen, weil ihre Gaͤnge und Ausfluͤſſe weit und gelaͤufig ge-
worden ſind. Sie hat das, was man guten und angenehmen
Ton heißt, ohne viele Geſellſchaft zu ſuchen und zu lieben:
daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch fuͤr Menſchen
von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder erſter Ehe
iſt ſie Alles, was Stilling nur wuͤnſchen kann, ſie iſt ganz
Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe
nicht ſagen, ſie hatte alles Vorhergehende geleſen, und mir
Vorwuͤrfe gemacht, daß ich ſie gelobt habe; allein ich bin
ihr und meinen Leſern, Gott zum Preis, mehr ſchuldig; da-
her habe ich naͤchſt Vorhergehendes und Folgendes vor ihr
verborgen, ſie iſt etwas kurz und geſetzt, hat ein gefaͤlliges
geiſtvolles Anſehen, und aus ihren blauen Augen und laͤcheln-
der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen
und Menſchenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch
in ſolchen, die eben nicht geradezu weiblich ſind, einen ruhig
forſchenden Blick, und immer ein reifes, entſcheidendes Ur-
theil, ſo daß ſie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn ſein
raſcher und thaͤtiger Geiſt partheiiſch iſt, er folgt ihr, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0436" n="428"/>
an, <hi rendition="#g">Stillings</hi> Vater zu be&#x017F;uchen, ihm widerfuhr eben &#x017F;o<lb/>
viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann gewe&#x017F;en wa&#x0364;re.<lb/>
Gott wird ihnen die&#x017F;e edle Ge&#x017F;innung vergelten, &#x017F;ie i&#x017F;t ihrer<lb/>
Herzen wu&#x0364;rdig.</p><lb/>
            <p>Einige Tage hielt &#x017F;ich Wilhelm bei &#x017F;einem Sohn auf, und<lb/>
er &#x017F;agte mehrmals: die&#x017F;e Zeit i&#x017F;t mir ein Vorge&#x017F;chmack des<lb/>
Himmels; vergnu&#x0364;gt und &#x017F;eelenvoll reiste er dann wieder mit<lb/>
&#x017F;einem Begleiter ab.</p><lb/>
            <p>Jetzt lebt al&#x017F;o nun <hi rendition="#g">Stilling</hi> in <hi rendition="#g">Marburg</hi> vollkommen<lb/>
glu&#x0364;cklich und im Segen, &#x017F;eine Ehe i&#x017F;t eine ta&#x0364;gliche Quelle<lb/>
des erhabend&#x017F;ten Vergnu&#x0364;gens, das &#x017F;ich auf Erden denken la&#x0364;ßt,<lb/>
denn <hi rendition="#g">Selma</hi> liebt ihn von ganzer Seele, u&#x0364;ber Alles in der<lb/>
Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufho&#x0364;rlich entgegen, und<lb/>
da ihn &#x017F;eine vielen und langwierigen Leiden a&#x0364;ng&#x017F;tlich gemacht<lb/>
haben, &#x017F;o, daß er immer E<supplied>t</supplied><gap unit="chars" quantity="1"/>as befu&#x0364;rchtet, ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en<lb/><hi rendition="#g">was</hi>, &#x017F;o geht ihr ganzes Be&#x017F;treben dahin, ihn aufzuheitern,<lb/>
und die Thra&#x0364;nen von &#x017F;einen Augen wegzuwi&#x017F;chen, die &#x017F;o leicht<lb/>
fließen, weil ihre Ga&#x0364;nge und Ausflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e weit und gela&#x0364;ufig ge-<lb/>
worden &#x017F;ind. Sie hat das, was man guten und angenehmen<lb/>
Ton heißt, ohne viele Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu &#x017F;uchen und zu lieben:<lb/>
daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch fu&#x0364;r Men&#x017F;chen<lb/>
von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder er&#x017F;ter Ehe<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie Alles, was <hi rendition="#g">Stilling</hi> nur wu&#x0364;n&#x017F;chen kann, &#x017F;ie i&#x017F;t ganz<lb/>
Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe<lb/>
nicht &#x017F;agen, &#x017F;ie hatte alles Vorhergehende gele&#x017F;en, und mir<lb/>
Vorwu&#x0364;rfe gemacht, daß ich &#x017F;ie gelobt habe; allein ich bin<lb/>
ihr und meinen Le&#x017F;ern, Gott zum Preis, mehr &#x017F;chuldig; da-<lb/>
her habe ich na&#x0364;ch&#x017F;t Vorhergehendes und Folgendes vor ihr<lb/>
verborgen, &#x017F;ie i&#x017F;t etwas kurz und ge&#x017F;etzt, hat ein gefa&#x0364;lliges<lb/>
gei&#x017F;tvolles An&#x017F;ehen, und aus ihren blauen Augen und la&#x0364;cheln-<lb/>
der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen<lb/>
und Men&#x017F;chenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch<lb/>
in &#x017F;olchen, die eben nicht geradezu weiblich &#x017F;ind, einen ruhig<lb/>
for&#x017F;chenden Blick, und immer ein reifes, ent&#x017F;cheidendes Ur-<lb/>
theil, &#x017F;o daß &#x017F;ie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn &#x017F;ein<lb/>
ra&#x017F;cher und tha&#x0364;tiger Gei&#x017F;t partheii&#x017F;ch i&#x017F;t, er folgt ihr, und<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[428/0436] an, Stillings Vater zu beſuchen, ihm widerfuhr eben ſo viel Ehre, als wenn er ein vornehmer Mann geweſen waͤre. Gott wird ihnen dieſe edle Geſinnung vergelten, ſie iſt ihrer Herzen wuͤrdig. Einige Tage hielt ſich Wilhelm bei ſeinem Sohn auf, und er ſagte mehrmals: dieſe Zeit iſt mir ein Vorgeſchmack des Himmels; vergnuͤgt und ſeelenvoll reiste er dann wieder mit ſeinem Begleiter ab. Jetzt lebt alſo nun Stilling in Marburg vollkommen gluͤcklich und im Segen, ſeine Ehe iſt eine taͤgliche Quelle des erhabendſten Vergnuͤgens, das ſich auf Erden denken laͤßt, denn Selma liebt ihn von ganzer Seele, uͤber Alles in der Welt, ihr ganzes Herz wallt ihm unaufhoͤrlich entgegen, und da ihn ſeine vielen und langwierigen Leiden aͤngſtlich gemacht haben, ſo, daß er immer Et_as befuͤrchtet, ohne zu wiſſen was, ſo geht ihr ganzes Beſtreben dahin, ihn aufzuheitern, und die Thraͤnen von ſeinen Augen wegzuwiſchen, die ſo leicht fließen, weil ihre Gaͤnge und Ausfluͤſſe weit und gelaͤufig ge- worden ſind. Sie hat das, was man guten und angenehmen Ton heißt, ohne viele Geſellſchaft zu ſuchen und zu lieben: daher hat ihn ihr Umgang gebildet und auch fuͤr Menſchen von Rang genießbar gemacht. Gegen die Kinder erſter Ehe iſt ſie Alles, was Stilling nur wuͤnſchen kann, ſie iſt ganz Mutter und Freundin, mehr wollte ich von dem edlen Weibe nicht ſagen, ſie hatte alles Vorhergehende geleſen, und mir Vorwuͤrfe gemacht, daß ich ſie gelobt habe; allein ich bin ihr und meinen Leſern, Gott zum Preis, mehr ſchuldig; da- her habe ich naͤchſt Vorhergehendes und Folgendes vor ihr verborgen, ſie iſt etwas kurz und geſetzt, hat ein gefaͤlliges geiſtvolles Anſehen, und aus ihren blauen Augen und laͤcheln- der Miene quillt jedem Edlen ein Strom von Wohlwollen und Menſchenliebe entgegen. Sie hat in allen Sachen, auch in ſolchen, die eben nicht geradezu weiblich ſind, einen ruhig forſchenden Blick, und immer ein reifes, entſcheidendes Ur- theil, ſo daß ſie ihr Mann oft zu Rathe zieht, wenn ſein raſcher und thaͤtiger Geiſt partheiiſch iſt, er folgt ihr, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/436
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/436>, abgerufen am 22.11.2024.