Cavalier von 27 Jahren geheirathet hatte; dieser wohnte jetzt in Niedersachsen auf ihren Gütern in einem sehr schönen Schloß. Die St. Florintinische Familie wußte indessen von dieser Frau weiter nichts, als alles Gute; da nun diese Dame, welche zugleich Selma's Pathe war, den Tod des Kammer-Direktors erfuhr, so schrieb sie im Jahr 1778 an die Wittwe, und bat sie, ihr ihre Selma zu schicken, sie wolle für sie sorgen und sie glücklich machen.
Die Frau von St. Florintin konnte sich fast unmöglich entschließen, ihre so zärtlich geliebte Tochter über 70 deutsche Meilen weit wegzuschicken; indessen, da ihr alle ihre Freunde und Kinder ernstlich dazu riethen, so ergab sie sich endlich. Selma kniete vor ihr hin, und die ehrwürdige Frau gab ihr unter tausend Thränen ihren Segen. Im Oktober des 1778. Jahres reiste sie also, unter sicherer Begleitung, nach Nieder- sachsen, und sie war gerade in Frankfurt, als Stilling mit Frau und Kindern hier durch, und von Schönenthal nach Rit- tersburg zog.
Nach einer langen und beschwerlichen Reise kam sie endlich auf dem Schlosse der Frau Obristin, ihrer Pathe, an; ihr Gemahl war in Amerika, und dort todt geblieben. Hier merkte sie aber bald, daß sie ihre Erwartung getäuscht hatte, denn sie wurde auf allerlei Weise mißhandelt. Dieß war eine hohe Schule, und eine harte Prüfung für das gute Mädchen. Sie war gut erzogen, Jedermann hatte ihr schön gethan, und hier hatte Niemand Gefühl für ihre Talente; zwar gabs Leute genug, die sie schätzten, allein die konnten sie nur trösten, aber ihr nicht helfen.
Dazu kam noch eine Geschichte: ein junger Cavalier machte ihr ernstliche Heiraths-Anträge, diese nahm sie an, die Heirath wurde zwischen beiderseitigen Familien beschlossen, und sie war wirklich seine Braut. Nun verreiste er, und auf dieser Reise trug sich etwas zu, das ihn von Selma wieder abzog; die Sache zerschlug sich.
Ich verschweige die wahre Ursache dieser Untreue, der große Tag wird sie entwickeln.
Nach und nach stiegen die Leiden der guten frommen Seele
Cavalier von 27 Jahren geheirathet hatte; dieſer wohnte jetzt in Niederſachſen auf ihren Guͤtern in einem ſehr ſchoͤnen Schloß. Die St. Florintiniſche Familie wußte indeſſen von dieſer Frau weiter nichts, als alles Gute; da nun dieſe Dame, welche zugleich Selma’s Pathe war, den Tod des Kammer-Direktors erfuhr, ſo ſchrieb ſie im Jahr 1778 an die Wittwe, und bat ſie, ihr ihre Selma zu ſchicken, ſie wolle fuͤr ſie ſorgen und ſie gluͤcklich machen.
Die Frau von St. Florintin konnte ſich faſt unmoͤglich entſchließen, ihre ſo zaͤrtlich geliebte Tochter uͤber 70 deutſche Meilen weit wegzuſchicken; indeſſen, da ihr alle ihre Freunde und Kinder ernſtlich dazu riethen, ſo ergab ſie ſich endlich. Selma kniete vor ihr hin, und die ehrwuͤrdige Frau gab ihr unter tauſend Thraͤnen ihren Segen. Im Oktober des 1778. Jahres reiste ſie alſo, unter ſicherer Begleitung, nach Nieder- ſachſen, und ſie war gerade in Frankfurt, als Stilling mit Frau und Kindern hier durch, und von Schoͤnenthal nach Rit- tersburg zog.
Nach einer langen und beſchwerlichen Reiſe kam ſie endlich auf dem Schloſſe der Frau Obriſtin, ihrer Pathe, an; ihr Gemahl war in Amerika, und dort todt geblieben. Hier merkte ſie aber bald, daß ſie ihre Erwartung getaͤuſcht hatte, denn ſie wurde auf allerlei Weiſe mißhandelt. Dieß war eine hohe Schule, und eine harte Pruͤfung fuͤr das gute Maͤdchen. Sie war gut erzogen, Jedermann hatte ihr ſchoͤn gethan, und hier hatte Niemand Gefuͤhl fuͤr ihre Talente; zwar gabs Leute genug, die ſie ſchaͤtzten, allein die konnten ſie nur troͤſten, aber ihr nicht helfen.
Dazu kam noch eine Geſchichte: ein junger Cavalier machte ihr ernſtliche Heiraths-Antraͤge, dieſe nahm ſie an, die Heirath wurde zwiſchen beiderſeitigen Familien beſchloſſen, und ſie war wirklich ſeine Braut. Nun verreiste er, und auf dieſer Reiſe trug ſich etwas zu, das ihn von Selma wieder abzog; die Sache zerſchlug ſich.
Ich verſchweige die wahre Urſache dieſer Untreue, der große Tag wird ſie entwickeln.
Nach und nach ſtiegen die Leiden der guten frommen Seele
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Cavalier von 27 Jahren geheirathet hatte; dieſer wohnte jetzt
in Niederſachſen auf ihren Guͤtern in einem ſehr ſchoͤnen Schloß.
Die St. Florintiniſche Familie wußte indeſſen von dieſer
Frau weiter nichts, als alles Gute; da nun dieſe Dame, welche
zugleich Selma’s Pathe war, den Tod des Kammer-Direktors
erfuhr, ſo ſchrieb ſie im Jahr 1778 an die Wittwe, und bat
ſie, ihr ihre Selma zu ſchicken, ſie wolle fuͤr ſie ſorgen und ſie
gluͤcklich machen.
Die Frau von St. Florintin konnte ſich faſt unmoͤglich
entſchließen, ihre ſo zaͤrtlich geliebte Tochter uͤber 70 deutſche
Meilen weit wegzuſchicken; indeſſen, da ihr alle ihre Freunde
und Kinder ernſtlich dazu riethen, ſo ergab ſie ſich endlich.
Selma kniete vor ihr hin, und die ehrwuͤrdige Frau gab ihr
unter tauſend Thraͤnen ihren Segen. Im Oktober des 1778.
Jahres reiste ſie alſo, unter ſicherer Begleitung, nach Nieder-
ſachſen, und ſie war gerade in Frankfurt, als Stilling mit
Frau und Kindern hier durch, und von Schoͤnenthal nach Rit-
tersburg zog.
Nach einer langen und beſchwerlichen Reiſe kam ſie endlich
auf dem Schloſſe der Frau Obriſtin, ihrer Pathe, an; ihr
Gemahl war in Amerika, und dort todt geblieben. Hier
merkte ſie aber bald, daß ſie ihre Erwartung getaͤuſcht hatte,
denn ſie wurde auf allerlei Weiſe mißhandelt. Dieß war eine
hohe Schule, und eine harte Pruͤfung fuͤr das gute Maͤdchen.
Sie war gut erzogen, Jedermann hatte ihr ſchoͤn gethan, und
hier hatte Niemand Gefuͤhl fuͤr ihre Talente; zwar gabs Leute
genug, die ſie ſchaͤtzten, allein die konnten ſie nur troͤſten, aber
ihr nicht helfen.
Dazu kam noch eine Geſchichte: ein junger Cavalier machte
ihr ernſtliche Heiraths-Antraͤge, dieſe nahm ſie an, die Heirath
wurde zwiſchen beiderſeitigen Familien beſchloſſen, und ſie war
wirklich ſeine Braut. Nun verreiste er, und auf dieſer Reiſe
trug ſich etwas zu, das ihn von Selma wieder abzog; die
Sache zerſchlug ſich.
Ich verſchweige die wahre Urſache dieſer Untreue, der große
Tag wird ſie entwickeln.
Nach und nach ſtiegen die Leiden der guten frommen Seele
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/417>, abgerufen am 22.11.2024.
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