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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Mit innigster Bewegung stand sie jetzt auf, blickte ihn mit
holder und durchdringender Miene an, und antwortete:

"Nein, ich verlasse Stillingen nicht -- Gott hat mich
"dazu bestimmt, daß ich Ihre Last mit Ihnen tragen soll --
"Wohlan! -- ich thue es gerne, haben Sie guten Muth,
"auch das werden wir mit Gott überwinden."

Wie es jetzt Stilling war, das läßt sich kaum vorstellen,
er weinte, fiel ihr um den Hals und rief: Engel Gottes!

Nun stiegen sie Hand in Hand die Treppe herunter, die Tante
freute sich innig über den glücklichen Ausgang dieser verdrießli-
chen und gefährlichen Sache, sie tröstete Beide süß und aus
Erfahrung.

Wie weise leitete jetzt wieder die Vorsehung Stillings
Schicksal! -- sage mir Einmal, daß sie nicht Gebete erhört! --
eine frühere Entdeckung hätte Alles wieder zerschlagen, und
eine spätere vielleicht Verdruß gemacht. Jetzt war gerade die
rechte Zeit.



Stilling reiste nun wieder ruhig und vergnügt nach Rit-
tersburg
zurück, und machte Anstalten zur Vollziehung sei-
ner Heirath, welche bei der Tante zu Kreuznach vor sich
gehen sollte.

Den Raum, vom jetzigen Zeitpunkt bis dahin, will ich in-
dessen mit
Selma's Lebensgeschichte
ausfüllen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten in
Frankreich zwei Brüder, beide von uraltem italienischen Adel,
sie nannten sich Ritter von St. Florintin, genannt Tan-
sor
. Einer von ihnen wurde Hugenotte, und mußte deßwegen
flüchtig werden ohne Hab und Gut; ohne Vermögen nahm er
seine Zuflucht ins Hessische, wo er sich zu Ziegenhain nie-
derließ, eine Handlung anfing, und eine ehrbare Jungfrau bür-
gerlichen Standes heirathete; einer seiner Söhne, oder gar sein
einziger Sohn, studirte die Rechtsgelehrtheit, wurde ein großer
thätiger rechtschaffener Mann, und Syndikus in der Reichsstadt
Worms; hier überfiel ihn am Ende des vorigen Jahrhunderts

27 *

Mit innigſter Bewegung ſtand ſie jetzt auf, blickte ihn mit
holder und durchdringender Miene an, und antwortete:

Nein, ich verlaſſe Stillingen nicht — Gott hat mich
„dazu beſtimmt, daß ich Ihre Laſt mit Ihnen tragen ſoll —
„Wohlan! — ich thue es gerne, haben Sie guten Muth,
„auch das werden wir mit Gott uͤberwinden.“

Wie es jetzt Stilling war, das laͤßt ſich kaum vorſtellen,
er weinte, fiel ihr um den Hals und rief: Engel Gottes!

Nun ſtiegen ſie Hand in Hand die Treppe herunter, die Tante
freute ſich innig uͤber den gluͤcklichen Ausgang dieſer verdrießli-
chen und gefaͤhrlichen Sache, ſie troͤſtete Beide ſuͤß und aus
Erfahrung.

Wie weiſe leitete jetzt wieder die Vorſehung Stillings
Schickſal! — ſage mir Einmal, daß ſie nicht Gebete erhoͤrt! —
eine fruͤhere Entdeckung haͤtte Alles wieder zerſchlagen, und
eine ſpaͤtere vielleicht Verdruß gemacht. Jetzt war gerade die
rechte Zeit.



Stilling reiste nun wieder ruhig und vergnuͤgt nach Rit-
tersburg
zuruͤck, und machte Anſtalten zur Vollziehung ſei-
ner Heirath, welche bei der Tante zu Kreuznach vor ſich
gehen ſollte.

Den Raum, vom jetzigen Zeitpunkt bis dahin, will ich in-
deſſen mit
Selma’s Lebensgeſchichte
ausfuͤllen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten in
Frankreich zwei Bruͤder, beide von uraltem italieniſchen Adel,
ſie nannten ſich Ritter von St. Florintin, genannt Tan-
ſor
. Einer von ihnen wurde Hugenotte, und mußte deßwegen
fluͤchtig werden ohne Hab und Gut; ohne Vermoͤgen nahm er
ſeine Zuflucht ins Heſſiſche, wo er ſich zu Ziegenhain nie-
derließ, eine Handlung anfing, und eine ehrbare Jungfrau buͤr-
gerlichen Standes heirathete; einer ſeiner Soͤhne, oder gar ſein
einziger Sohn, ſtudirte die Rechtsgelehrtheit, wurde ein großer
thaͤtiger rechtſchaffener Mann, und Syndikus in der Reichsſtadt
Worms; hier uͤberfiel ihn am Ende des vorigen Jahrhunderts

27 *
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[407/0415] Mit innigſter Bewegung ſtand ſie jetzt auf, blickte ihn mit holder und durchdringender Miene an, und antwortete: „Nein, ich verlaſſe Stillingen nicht — Gott hat mich „dazu beſtimmt, daß ich Ihre Laſt mit Ihnen tragen ſoll — „Wohlan! — ich thue es gerne, haben Sie guten Muth, „auch das werden wir mit Gott uͤberwinden.“ Wie es jetzt Stilling war, das laͤßt ſich kaum vorſtellen, er weinte, fiel ihr um den Hals und rief: Engel Gottes! Nun ſtiegen ſie Hand in Hand die Treppe herunter, die Tante freute ſich innig uͤber den gluͤcklichen Ausgang dieſer verdrießli- chen und gefaͤhrlichen Sache, ſie troͤſtete Beide ſuͤß und aus Erfahrung. Wie weiſe leitete jetzt wieder die Vorſehung Stillings Schickſal! — ſage mir Einmal, daß ſie nicht Gebete erhoͤrt! — eine fruͤhere Entdeckung haͤtte Alles wieder zerſchlagen, und eine ſpaͤtere vielleicht Verdruß gemacht. Jetzt war gerade die rechte Zeit. Stilling reiste nun wieder ruhig und vergnuͤgt nach Rit- tersburg zuruͤck, und machte Anſtalten zur Vollziehung ſei- ner Heirath, welche bei der Tante zu Kreuznach vor ſich gehen ſollte. Den Raum, vom jetzigen Zeitpunkt bis dahin, will ich in- deſſen mit Selma’s Lebensgeſchichte ausfuͤllen. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten in Frankreich zwei Bruͤder, beide von uraltem italieniſchen Adel, ſie nannten ſich Ritter von St. Florintin, genannt Tan- ſor. Einer von ihnen wurde Hugenotte, und mußte deßwegen fluͤchtig werden ohne Hab und Gut; ohne Vermoͤgen nahm er ſeine Zuflucht ins Heſſiſche, wo er ſich zu Ziegenhain nie- derließ, eine Handlung anfing, und eine ehrbare Jungfrau buͤr- gerlichen Standes heirathete; einer ſeiner Soͤhne, oder gar ſein einziger Sohn, ſtudirte die Rechtsgelehrtheit, wurde ein großer thaͤtiger rechtſchaffener Mann, und Syndikus in der Reichsſtadt Worms; hier uͤberfiel ihn am Ende des vorigen Jahrhunderts 27 *

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/415>, abgerufen am 22.11.2024.