Zwei Tage vor seiner Abreise von Krenznach saß er des Morgens mit der Tante und seiner Braut im Vorhause; jetzt trat der Briefträger herein, und überreichte einen Brief an Selma; sie nahm ihn an, erbrach ihn, las, und ent- färbte sich; dann zog sie die Tante mit sich fort in die Stube, kam bald wieder heraus, und ging hinauf auf die Schlafkam- mer. Jetzt kam auch die Tante, setzte sich neben Stilling und entdeckte ihm, daß Selma von einem Freunde einen Brief empfangen habe, in welchem ihr bekannt gemacht wor- den, daß er in vielen Schulden stecke; dieß sey ihr aufgefal- len, er möchte also geschwinde zu ihr hinaufgehen und mit ihr sprechen, damit sie nicht wieder rückfällig würde, denn es gebe viele brave Männer, die dieses Unglück hätten, so Etwas müsse keine Trennung machen, u. s. w. Jetzt stieg Stilling mit einer Empfindung die Treppe hinauf, die der- jenigen völlig gleich ist, womit ein armer Sünder vor den Richter geführt wird, um sein Urtheil zu hören.
Als er ins Zimmer hereintrat, so saß sie an einem Tisch- chen, und lehnte den Kopf auf ihre Hand.
Verzeihen Sie, meine theuersteSelma! fing er an, daß ich Ihnen von meinen Schulden nichts gesagt habe, es war mir unmöglich, ich hätte Sie ja dann nicht bekommen, Ihr Besitz ist mir unentbehrlich; meine Schulden sind nicht aus Pracht und Verschwendung, sondern aus äusserster Noth ent- standen; ich kann viel verdienen, und bin unermüdet im Ar- beiten, bei einer ordentlichen Haushaltung werden sie in eini- gen Jahren getilgt seyn, und sollte ich sterben, so kann ja Niemand Forderung an Sie machen -- Sie müssen sich also die Sache so vorstellen, als wenn Sie jährlich einige hundert Gulden weniger Einnahme hätten, weiter verlieren Sie nichts dabei, mit tausend Gulden kommen Sie in der Haushaltung fort, und das übrige verwende ich dann zu Bezahlung der Schulden. Indessen, liebe, theure Seele! ich gebe Sie in dem Augenblick frei; und wenn es mich auch mein Leben kosten sollte, so bin ich doch nicht fähig, Sie bei Ihrem Wort zu halten, sobald es Sie reuet.
Damit schwieg er still und erwartete sein Urtheil.
Zwei Tage vor ſeiner Abreiſe von Krenznach ſaß er des Morgens mit der Tante und ſeiner Braut im Vorhauſe; jetzt trat der Brieftraͤger herein, und uͤberreichte einen Brief an Selma; ſie nahm ihn an, erbrach ihn, las, und ent- faͤrbte ſich; dann zog ſie die Tante mit ſich fort in die Stube, kam bald wieder heraus, und ging hinauf auf die Schlafkam- mer. Jetzt kam auch die Tante, ſetzte ſich neben Stilling und entdeckte ihm, daß Selma von einem Freunde einen Brief empfangen habe, in welchem ihr bekannt gemacht wor- den, daß er in vielen Schulden ſtecke; dieß ſey ihr aufgefal- len, er moͤchte alſo geſchwinde zu ihr hinaufgehen und mit ihr ſprechen, damit ſie nicht wieder ruͤckfaͤllig wuͤrde, denn es gebe viele brave Maͤnner, die dieſes Ungluͤck haͤtten, ſo Etwas muͤſſe keine Trennung machen, u. ſ. w. Jetzt ſtieg Stilling mit einer Empfindung die Treppe hinauf, die der- jenigen voͤllig gleich iſt, womit ein armer Suͤnder vor den Richter gefuͤhrt wird, um ſein Urtheil zu hoͤren.
Als er ins Zimmer hereintrat, ſo ſaß ſie an einem Tiſch- chen, und lehnte den Kopf auf ihre Hand.
Verzeihen Sie, meine theuerſteSelma! fing er an, daß ich Ihnen von meinen Schulden nichts geſagt habe, es war mir unmoͤglich, ich haͤtte Sie ja dann nicht bekommen, Ihr Beſitz iſt mir unentbehrlich; meine Schulden ſind nicht aus Pracht und Verſchwendung, ſondern aus aͤuſſerſter Noth ent- ſtanden; ich kann viel verdienen, und bin unermuͤdet im Ar- beiten, bei einer ordentlichen Haushaltung werden ſie in eini- gen Jahren getilgt ſeyn, und ſollte ich ſterben, ſo kann ja Niemand Forderung an Sie machen — Sie muͤſſen ſich alſo die Sache ſo vorſtellen, als wenn Sie jaͤhrlich einige hundert Gulden weniger Einnahme haͤtten, weiter verlieren Sie nichts dabei, mit tauſend Gulden kommen Sie in der Haushaltung fort, und das uͤbrige verwende ich dann zu Bezahlung der Schulden. Indeſſen, liebe, theure Seele! ich gebe Sie in dem Augenblick frei; und wenn es mich auch mein Leben koſten ſollte, ſo bin ich doch nicht faͤhig, Sie bei Ihrem Wort zu halten, ſobald es Sie reuet.
Damit ſchwieg er ſtill und erwartete ſein Urtheil.
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Zwei Tage vor ſeiner Abreiſe von Krenznach ſaß er
des Morgens mit der Tante und ſeiner Braut im Vorhauſe;
jetzt trat der Brieftraͤger herein, und uͤberreichte einen Brief
an Selma; ſie nahm ihn an, erbrach ihn, las, und ent-
faͤrbte ſich; dann zog ſie die Tante mit ſich fort in die Stube,
kam bald wieder heraus, und ging hinauf auf die Schlafkam-
mer. Jetzt kam auch die Tante, ſetzte ſich neben Stilling
und entdeckte ihm, daß Selma von einem Freunde einen
Brief empfangen habe, in welchem ihr bekannt gemacht wor-
den, daß er in vielen Schulden ſtecke; dieß ſey ihr aufgefal-
len, er moͤchte alſo geſchwinde zu ihr hinaufgehen und mit
ihr ſprechen, damit ſie nicht wieder ruͤckfaͤllig wuͤrde, denn
es gebe viele brave Maͤnner, die dieſes Ungluͤck haͤtten, ſo
Etwas muͤſſe keine Trennung machen, u. ſ. w. Jetzt ſtieg
Stilling mit einer Empfindung die Treppe hinauf, die der-
jenigen voͤllig gleich iſt, womit ein armer Suͤnder vor den
Richter gefuͤhrt wird, um ſein Urtheil zu hoͤren.
Als er ins Zimmer hereintrat, ſo ſaß ſie an einem Tiſch-
chen, und lehnte den Kopf auf ihre Hand.
Verzeihen Sie, meine theuerſte Selma! fing er an, daß
ich Ihnen von meinen Schulden nichts geſagt habe, es war
mir unmoͤglich, ich haͤtte Sie ja dann nicht bekommen, Ihr
Beſitz iſt mir unentbehrlich; meine Schulden ſind nicht aus
Pracht und Verſchwendung, ſondern aus aͤuſſerſter Noth ent-
ſtanden; ich kann viel verdienen, und bin unermuͤdet im Ar-
beiten, bei einer ordentlichen Haushaltung werden ſie in eini-
gen Jahren getilgt ſeyn, und ſollte ich ſterben, ſo kann ja
Niemand Forderung an Sie machen — Sie muͤſſen ſich alſo
die Sache ſo vorſtellen, als wenn Sie jaͤhrlich einige hundert
Gulden weniger Einnahme haͤtten, weiter verlieren Sie nichts
dabei, mit tauſend Gulden kommen Sie in der Haushaltung
fort, und das uͤbrige verwende ich dann zu Bezahlung der
Schulden. Indeſſen, liebe, theure Seele! ich gebe Sie in dem
Augenblick frei; und wenn es mich auch mein Leben koſten
ſollte, ſo bin ich doch nicht faͤhig, Sie bei Ihrem Wort zu
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/414>, abgerufen am 26.11.2024.
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