wort; die vortreffliche Frau schrieb ihm: ihre Freundin heiße Selma von St. Florintin, und sey die Schwester des dasigen Rathskonsulenten dieses Namens; alles, was sie ihm von ihr geschrieben habe, sey wahr, sie habe ihr auch seinen Brief gezeigt, ihr nunmehr etwas von der Sache gesagt, und sie habe sich geäußert, daß es ihr nicht zuwider sey, wenn sie Stilling einmal besuchte. Die Frau von la Roche rieth ihm also, nach Reichenburg zu reisen, wo sich Selma jetzt in dem Gasthof zum Adler aufhalte, weil der Gasthal- ter dieses Hauses ihr Verwandter sey. Stilling war von jeher in allen seinen Unternehmungen rasch und feurig, flugs nahm er also Extrapost, und fuhr nach Reichenburg, wel- ches eine Tagreise von Rittersburg, und vier Stunden von S.... entlegen war. Er kam also am Abend dort an, und kehrte im gedachten Gasthof ein. Jetzt war er nun in Verlegenheit, er durfte nicht nach der Person fragen, die er suchte, und ohne dieses hätte seine Reise leicht vergeblich seyn können, indessen hoffte er, sie werde wohl zum Vorschein kommen, und Gott werde seinen Gang ferner leiten. Da es nun noch früh war, so ging er zu einem vertrauten Freunde; diesem entdeckte er sein Vorhaben, und obgleich dieser Freund einen andern Plan mit ihm vorhatte, so gestand er doch ein, daß Selma alles das sey, was ihm die Frau von la Roche geschrieben habe; ja sie sey eher noch mehr als weniger, bei dem Allem aber nicht reich. Stilling freute sich von Her- zen über dieses Zeugniß und antwortete: wenn sie schon nicht reich ist, laßt sie nur eine gute Haushälterin seyn, so wird dennoch Alles gut gehen.
Er ging nun wieder in den Gasthof zurück; ohngeachtet aller Aufmerksamkeit aber konnte er nicht das geringste von ihr hören und sehen. Um neun Uhr ging man an die Table d'hote, die Tischgesellschaft war angenehm und auserlesen, er saß wie im Feuer, denn auch jetzt erschien Selma nicht, ihm wurde weh, und er wußte nicht, was er beginnen sollte. Als es aber endlich zum Desert kam, fing ein ehrwürdiger Greis an, der ihm zur Linken saß: "Mir ist ein artiger Spaß "passirt, ich entschloß mich heute, der Frau von la Roche in
wort; die vortreffliche Frau ſchrieb ihm: ihre Freundin heiße Selma von St. Florintin, und ſey die Schweſter des daſigen Rathskonſulenten dieſes Namens; alles, was ſie ihm von ihr geſchrieben habe, ſey wahr, ſie habe ihr auch ſeinen Brief gezeigt, ihr nunmehr etwas von der Sache geſagt, und ſie habe ſich geaͤußert, daß es ihr nicht zuwider ſey, wenn ſie Stilling einmal beſuchte. Die Frau von la Roche rieth ihm alſo, nach Reichenburg zu reiſen, wo ſich Selma jetzt in dem Gaſthof zum Adler aufhalte, weil der Gaſthal- ter dieſes Hauſes ihr Verwandter ſey. Stilling war von jeher in allen ſeinen Unternehmungen raſch und feurig, flugs nahm er alſo Extrapoſt, und fuhr nach Reichenburg, wel- ches eine Tagreiſe von Rittersburg, und vier Stunden von S.... entlegen war. Er kam alſo am Abend dort an, und kehrte im gedachten Gaſthof ein. Jetzt war er nun in Verlegenheit, er durfte nicht nach der Perſon fragen, die er ſuchte, und ohne dieſes haͤtte ſeine Reiſe leicht vergeblich ſeyn koͤnnen, indeſſen hoffte er, ſie werde wohl zum Vorſchein kommen, und Gott werde ſeinen Gang ferner leiten. Da es nun noch fruͤh war, ſo ging er zu einem vertrauten Freunde; dieſem entdeckte er ſein Vorhaben, und obgleich dieſer Freund einen andern Plan mit ihm vorhatte, ſo geſtand er doch ein, daß Selma alles das ſey, was ihm die Frau von la Roche geſchrieben habe; ja ſie ſey eher noch mehr als weniger, bei dem Allem aber nicht reich. Stilling freute ſich von Her- zen uͤber dieſes Zeugniß und antwortete: wenn ſie ſchon nicht reich iſt, laßt ſie nur eine gute Haushaͤlterin ſeyn, ſo wird dennoch Alles gut gehen.
Er ging nun wieder in den Gaſthof zuruͤck; ohngeachtet aller Aufmerkſamkeit aber konnte er nicht das geringſte von ihr hoͤren und ſehen. Um neun Uhr ging man an die Table d’hôte, die Tiſchgeſellſchaft war angenehm und auserleſen, er ſaß wie im Feuer, denn auch jetzt erſchien Selma nicht, ihm wurde weh, und er wußte nicht, was er beginnen ſollte. Als es aber endlich zum Deſert kam, fing ein ehrwuͤrdiger Greis an, der ihm zur Linken ſaß: „Mir iſt ein artiger Spaß „paſſirt, ich entſchloß mich heute, der Frau von la Roche in
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daſigen Rathskonſulenten dieſes Namens; alles, was ſie ihm
von ihr geſchrieben habe, ſey wahr, ſie habe ihr auch ſeinen
Brief gezeigt, ihr nunmehr etwas von der Sache geſagt, und
ſie habe ſich geaͤußert, daß es ihr nicht zuwider ſey, wenn
ſie Stilling einmal beſuchte. Die Frau von la Roche
rieth ihm alſo, nach Reichenburg zu reiſen, wo ſich Selma
jetzt in dem Gaſthof zum Adler aufhalte, weil der Gaſthal-
ter dieſes Hauſes ihr Verwandter ſey. Stilling war von
jeher in allen ſeinen Unternehmungen raſch und feurig, flugs
nahm er alſo Extrapoſt, und fuhr nach Reichenburg, wel-
ches eine Tagreiſe von Rittersburg, und vier Stunden
von S.... entlegen war. Er kam alſo am Abend dort an,
und kehrte im gedachten Gaſthof ein. Jetzt war er nun in
Verlegenheit, er durfte nicht nach der Perſon fragen, die er
ſuchte, und ohne dieſes haͤtte ſeine Reiſe leicht vergeblich ſeyn
koͤnnen, indeſſen hoffte er, ſie werde wohl zum Vorſchein
kommen, und Gott werde ſeinen Gang ferner leiten. Da es
nun noch fruͤh war, ſo ging er zu einem vertrauten Freunde;
dieſem entdeckte er ſein Vorhaben, und obgleich dieſer Freund
einen andern Plan mit ihm vorhatte, ſo geſtand er doch ein,
daß Selma alles das ſey, was ihm die Frau von la Roche
geſchrieben habe; ja ſie ſey eher noch mehr als weniger, bei
dem Allem aber nicht reich. Stilling freute ſich von Her-
zen uͤber dieſes Zeugniß und antwortete: wenn ſie ſchon nicht
reich iſt, laßt ſie nur eine gute Haushaͤlterin ſeyn, ſo wird
dennoch Alles gut gehen.
Er ging nun wieder in den Gaſthof zuruͤck; ohngeachtet
aller Aufmerkſamkeit aber konnte er nicht das geringſte von
ihr hoͤren und ſehen. Um neun Uhr ging man an die Table
d’hôte, die Tiſchgeſellſchaft war angenehm und auserleſen,
er ſaß wie im Feuer, denn auch jetzt erſchien Selma nicht,
ihm wurde weh, und er wußte nicht, was er beginnen ſollte.
Als es aber endlich zum Deſert kam, fing ein ehrwuͤrdiger
Greis an, der ihm zur Linken ſaß: „Mir iſt ein artiger Spaß
„paſſirt, ich entſchloß mich heute, der Frau von la Roche in
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/405>, abgerufen am 22.11.2024.
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