zurück, er verhüllte sein Angesicht, weinte und schluchzte, so daß er sich kaum trösten konnte. Seine Haushaltung hatte er aufgegeben, die Magd weggeschickt, und die Leute, bei denen er wohnte, brachten ihm das Essen auf sein Zimmer; er war also in der Wildfremde ganz allein. Fast reute es ihn, daß er seine Kinder und die Magd weggethan hatte, allein es war nicht anders möglich; seine Kinder mußten Erziehung haben, dazu aber beschäftigte ihn sein Beruf zu sehr, und dann durfte er auch keiner Magd seine Haushaltung anver- trauen. So wie es jetzt war, war die Einrichtung freilich am besten, aber für ihn unerträglich, er war gewohnt, an der Hand einer treuen Freundin zu wandeln, und die hatte er nun nicht mehr; sein Leiden war unaussprechlich; zuweilen tröstete ihn sein Vater Wilhelm Stilling in einem Brief, und stellte ihm seine ersten Jugendjahre vor, wo er sich er- innern würde, wie lange und schwer er den Verlust seines seligen Dortchens betrauert habe, doch habe die Zeit nach und nach die Wunde geheilet; es werde ihm auch noch so gehen; allein das half wenig, Stilling war jetzt einmal im Kummer und sahe keinen Ausweg, wo er sich heraus- winden könnte.
Dazu kam noch die traurige späte Herbstzeit, welche ohne- hin vielen Einfluß auf seine Seelenstimmung hatte; wenn er zum Fenster hinaus in die entblätterte Natur blickte, so wars ihm, als wenn er ganz einsam unter Leichen wandelte, und nichts als Tod und Verwesung um sich her sähe, mit Einem Wort: seine Wehmuth war nicht zu beschreiben.
Nach vier Wochen, mitten im November, an einem Sonn- abend Nachmittag, stieg diese wehmüthige Empfindung aufs Höchste, er lief aus und ein und fand nirgends Ruhe; auf Einmal gerieth er ins Beten, er verschloß sich also auf sein Zimmer, und betete mit der innigsten Inbrunst und mit un- aussprechlichem Vertrauen zu seinem himmlischen Vater; er konnte nicht zum Aufhören kommen. Wenn er auf dem Ka- theder war, so flehte sein Herz immer fort, und so wie er wieder in seine Schlafkammer kam, so lag er wieder da, rief und betete laut. Des Abends um sechs Uhr, als er sein letz-
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zuruͤck, er verhuͤllte ſein Angeſicht, weinte und ſchluchzte, ſo daß er ſich kaum troͤſten konnte. Seine Haushaltung hatte er aufgegeben, die Magd weggeſchickt, und die Leute, bei denen er wohnte, brachten ihm das Eſſen auf ſein Zimmer; er war alſo in der Wildfremde ganz allein. Faſt reute es ihn, daß er ſeine Kinder und die Magd weggethan hatte, allein es war nicht anders moͤglich; ſeine Kinder mußten Erziehung haben, dazu aber beſchaͤftigte ihn ſein Beruf zu ſehr, und dann durfte er auch keiner Magd ſeine Haushaltung anver- trauen. So wie es jetzt war, war die Einrichtung freilich am beſten, aber fuͤr ihn unertraͤglich, er war gewohnt, an der Hand einer treuen Freundin zu wandeln, und die hatte er nun nicht mehr; ſein Leiden war unausſprechlich; zuweilen troͤſtete ihn ſein Vater Wilhelm Stilling in einem Brief, und ſtellte ihm ſeine erſten Jugendjahre vor, wo er ſich er- innern wuͤrde, wie lange und ſchwer er den Verluſt ſeines ſeligen Dortchens betrauert habe, doch habe die Zeit nach und nach die Wunde geheilet; es werde ihm auch noch ſo gehen; allein das half wenig, Stilling war jetzt einmal im Kummer und ſahe keinen Ausweg, wo er ſich heraus- winden koͤnnte.
Dazu kam noch die traurige ſpaͤte Herbſtzeit, welche ohne- hin vielen Einfluß auf ſeine Seelenſtimmung hatte; wenn er zum Fenſter hinaus in die entblaͤtterte Natur blickte, ſo wars ihm, als wenn er ganz einſam unter Leichen wandelte, und nichts als Tod und Verweſung um ſich her ſaͤhe, mit Einem Wort: ſeine Wehmuth war nicht zu beſchreiben.
Nach vier Wochen, mitten im November, an einem Sonn- abend Nachmittag, ſtieg dieſe wehmuͤthige Empfindung aufs Hoͤchſte, er lief aus und ein und fand nirgends Ruhe; auf Einmal gerieth er ins Beten, er verſchloß ſich alſo auf ſein Zimmer, und betete mit der innigſten Inbrunſt und mit un- ausſprechlichem Vertrauen zu ſeinem himmliſchen Vater; er konnte nicht zum Aufhoͤren kommen. Wenn er auf dem Ka- theder war, ſo flehte ſein Herz immer fort, und ſo wie er wieder in ſeine Schlafkammer kam, ſo lag er wieder da, rief und betete laut. Des Abends um ſechs Uhr, als er ſein letz-
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zuruͤck, er verhuͤllte ſein Angeſicht, weinte und ſchluchzte, ſo
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er aufgegeben, die Magd weggeſchickt, und die Leute, bei denen
er wohnte, brachten ihm das Eſſen auf ſein Zimmer; er war
alſo in der Wildfremde ganz allein. Faſt reute es ihn, daß
er ſeine Kinder und die Magd weggethan hatte, allein es
war nicht anders moͤglich; ſeine Kinder mußten Erziehung
haben, dazu aber beſchaͤftigte ihn ſein Beruf zu ſehr, und
dann durfte er auch keiner Magd ſeine Haushaltung anver-
trauen. So wie es jetzt war, war die Einrichtung freilich am
beſten, aber fuͤr ihn unertraͤglich, er war gewohnt, an der
Hand einer treuen Freundin zu wandeln, und die hatte er
nun nicht mehr; ſein Leiden war unausſprechlich; zuweilen
troͤſtete ihn ſein Vater Wilhelm Stilling in einem Brief,
und ſtellte ihm ſeine erſten Jugendjahre vor, wo er ſich er-
innern wuͤrde, wie lange und ſchwer er den Verluſt ſeines
ſeligen Dortchens betrauert habe, doch habe die Zeit nach
und nach die Wunde geheilet; es werde ihm auch noch ſo
gehen; allein das half wenig, Stilling war jetzt einmal
im Kummer und ſahe keinen Ausweg, wo er ſich heraus-
winden koͤnnte.
Dazu kam noch die traurige ſpaͤte Herbſtzeit, welche ohne-
hin vielen Einfluß auf ſeine Seelenſtimmung hatte; wenn
er zum Fenſter hinaus in die entblaͤtterte Natur blickte, ſo
wars ihm, als wenn er ganz einſam unter Leichen wandelte,
und nichts als Tod und Verweſung um ſich her ſaͤhe, mit
Einem Wort: ſeine Wehmuth war nicht zu beſchreiben.
Nach vier Wochen, mitten im November, an einem Sonn-
abend Nachmittag, ſtieg dieſe wehmuͤthige Empfindung aufs
Hoͤchſte, er lief aus und ein und fand nirgends Ruhe; auf
Einmal gerieth er ins Beten, er verſchloß ſich alſo auf ſein
Zimmer, und betete mit der innigſten Inbrunſt und mit un-
ausſprechlichem Vertrauen zu ſeinem himmliſchen Vater; er
konnte nicht zum Aufhoͤren kommen. Wenn er auf dem Ka-
theder war, ſo flehte ſein Herz immer fort, und ſo wie er
wieder in ſeine Schlafkammer kam, ſo lag er wieder da, rief
und betete laut. Des Abends um ſechs Uhr, als er ſein letz-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/399>, abgerufen am 22.11.2024.
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