blick trat Siegfried herein, schaute hin, fiel seinem Freund um den Hals, und beide vergossen milde Thränen.
"Du holder Engel!" rief Siegfried über sie hin, und schluchzte -- "hast du nun ausgelitten?" -- Stilling aber küßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und sagte:
"Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir für deine treue Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude!"
Als Siegfried fort war, brachte man die beiden Kin- der, er führte sie zur Leiche, sie sahen hin und schrieen laut; nun setzte er sich, nahm auf jedes Knie eins, drückte sie an seine Brust, und alle Drei weinten bittere Thränen. Endlich ermannte er sich und machte nun die Anstalten, die die Um- stände erforderten.
Den 21. Oktober des Morgens in der Dämmerung trugen Stillings Rittersburger Freunde seine Gattin hinaus auf den Gottesacker und beerdigten sie in der Stille; diese letzte Trennung erleichterten ihm die beiden protestantischen Predi- ger, seine Freunde, welche bei ihm saßen und ihn mit trö- stenden Gesprächen unterhielten.
Mit Christinens Tod endigte sich nun eine große und wichtige Periode in Stillings Geschichte, und es begann allmählig eine eben so wichtige, welche die Zwecke seiner bis- herigen schweren Führung herrlich und ruhig enthüllte.
Nach Christinens Tod suchte nun Stilling seine ein- same Lebensart zweckmäßig einzurichten; er reiste nach Zwei- brücken, wo er sehr gute und treue Freunde hatte; dort über- legte er mit ihnen, wo er seine Kinder am besten in eine Pension unterbringen könnte, damit sie ordentlich erzogen wer- den möchten. Nun fand sich in Zweibrücken eine dem Anse- hen nach sehr gute Gelegenheit; er machte also die Sache richtig, reiste dann zurück und holte sie ab. Die Tochter war jetzt im neunten, der Sohn aber sieben Jahr alt.
Als er aber seine Kinder weggebracht hatte, und nun wie- der in seine einsame und öde Wohnung kam, so fiel alles Leiden mit unaussprechlich wehmüthiger Empfindung auf ihn
blick trat Siegfried herein, ſchaute hin, fiel ſeinem Freund um den Hals, und beide vergoſſen milde Thraͤnen.
„Du holder Engel!“ rief Siegfried uͤber ſie hin, und ſchluchzte — „haſt du nun ausgelitten?“ — Stilling aber kuͤßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und ſagte:
„Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir fuͤr deine treue Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude!“
Als Siegfried fort war, brachte man die beiden Kin- der, er fuͤhrte ſie zur Leiche, ſie ſahen hin und ſchrieen laut; nun ſetzte er ſich, nahm auf jedes Knie eins, druͤckte ſie an ſeine Bruſt, und alle Drei weinten bittere Thraͤnen. Endlich ermannte er ſich und machte nun die Anſtalten, die die Um- ſtaͤnde erforderten.
Den 21. Oktober des Morgens in der Daͤmmerung trugen Stillings Rittersburger Freunde ſeine Gattin hinaus auf den Gottesacker und beerdigten ſie in der Stille; dieſe letzte Trennung erleichterten ihm die beiden proteſtantiſchen Predi- ger, ſeine Freunde, welche bei ihm ſaßen und ihn mit troͤ- ſtenden Geſpraͤchen unterhielten.
Mit Chriſtinens Tod endigte ſich nun eine große und wichtige Periode in Stillings Geſchichte, und es begann allmaͤhlig eine eben ſo wichtige, welche die Zwecke ſeiner bis- herigen ſchweren Fuͤhrung herrlich und ruhig enthuͤllte.
Nach Chriſtinens Tod ſuchte nun Stilling ſeine ein- ſame Lebensart zweckmaͤßig einzurichten; er reiste nach Zwei- bruͤcken, wo er ſehr gute und treue Freunde hatte; dort uͤber- legte er mit ihnen, wo er ſeine Kinder am beſten in eine Penſion unterbringen koͤnnte, damit ſie ordentlich erzogen wer- den moͤchten. Nun fand ſich in Zweibruͤcken eine dem Anſe- hen nach ſehr gute Gelegenheit; er machte alſo die Sache richtig, reiste dann zuruͤck und holte ſie ab. Die Tochter war jetzt im neunten, der Sohn aber ſieben Jahr alt.
Als er aber ſeine Kinder weggebracht hatte, und nun wie- der in ſeine einſame und oͤde Wohnung kam, ſo fiel alles Leiden mit unausſprechlich wehmuͤthiger Empfindung auf ihn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0398"n="390"/>
blick trat <hirendition="#g">Siegfried</hi> herein, ſchaute hin, fiel ſeinem Freund<lb/>
um den Hals, und beide vergoſſen milde Thraͤnen.</p><lb/><p>„Du holder Engel!“ rief <hirendition="#g">Siegfried</hi> uͤber ſie hin, und<lb/>ſchluchzte —„haſt du nun ausgelitten?“—<hirendition="#g">Stilling</hi><lb/>
aber kuͤßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und ſagte:</p><lb/><p>„Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir fuͤr deine treue<lb/>
Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude!“</p><lb/><p>Als <hirendition="#g">Siegfried</hi> fort war, brachte man die beiden Kin-<lb/>
der, er fuͤhrte ſie zur Leiche, ſie ſahen hin und ſchrieen laut;<lb/>
nun ſetzte er ſich, nahm auf jedes Knie eins, druͤckte ſie an<lb/>ſeine Bruſt, und alle Drei weinten bittere Thraͤnen. Endlich<lb/>
ermannte er ſich und machte nun die Anſtalten, die die Um-<lb/>ſtaͤnde erforderten.</p><lb/><p>Den 21. Oktober des Morgens in der Daͤmmerung trugen<lb/><hirendition="#g">Stillings</hi> Rittersburger Freunde ſeine Gattin hinaus auf<lb/>
den Gottesacker und beerdigten ſie in der Stille; dieſe letzte<lb/>
Trennung erleichterten ihm die beiden proteſtantiſchen Predi-<lb/>
ger, ſeine Freunde, welche bei ihm ſaßen und ihn mit troͤ-<lb/>ſtenden Geſpraͤchen unterhielten.</p><lb/><p>Mit <hirendition="#g">Chriſtinens</hi> Tod endigte ſich nun eine große und<lb/>
wichtige Periode in <hirendition="#g">Stillings</hi> Geſchichte, und es begann<lb/>
allmaͤhlig eine eben ſo wichtige, welche die Zwecke ſeiner bis-<lb/>
herigen ſchweren Fuͤhrung herrlich und ruhig enthuͤllte.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Nach <hirendition="#g">Chriſtinens</hi> Tod ſuchte nun <hirendition="#g">Stilling</hi>ſeine ein-<lb/>ſame Lebensart zweckmaͤßig einzurichten; er reiste nach Zwei-<lb/>
bruͤcken, wo er ſehr gute und treue Freunde hatte; dort uͤber-<lb/>
legte er mit ihnen, wo er ſeine Kinder am beſten in eine<lb/>
Penſion unterbringen koͤnnte, damit ſie ordentlich erzogen wer-<lb/>
den moͤchten. Nun fand ſich in Zweibruͤcken eine dem Anſe-<lb/>
hen nach ſehr gute Gelegenheit; er machte alſo die Sache<lb/>
richtig, reiste dann zuruͤck und holte ſie ab. Die Tochter<lb/>
war jetzt im neunten, der Sohn aber ſieben Jahr alt.</p><lb/><p>Als er aber ſeine Kinder weggebracht hatte, und nun wie-<lb/>
der in ſeine einſame und oͤde Wohnung kam, ſo fiel alles<lb/>
Leiden mit unausſprechlich wehmuͤthiger Empfindung auf ihn<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[390/0398]
blick trat Siegfried herein, ſchaute hin, fiel ſeinem Freund
um den Hals, und beide vergoſſen milde Thraͤnen.
„Du holder Engel!“ rief Siegfried uͤber ſie hin, und
ſchluchzte — „haſt du nun ausgelitten?“ — Stilling
aber kuͤßte noch einmal ihre erblaßten Lippen und ſagte:
„Du Dulderin ohne Gleichen, Dank dir fuͤr deine treue
Liebe, gehe ein zu deines Herrn Freude!“
Als Siegfried fort war, brachte man die beiden Kin-
der, er fuͤhrte ſie zur Leiche, ſie ſahen hin und ſchrieen laut;
nun ſetzte er ſich, nahm auf jedes Knie eins, druͤckte ſie an
ſeine Bruſt, und alle Drei weinten bittere Thraͤnen. Endlich
ermannte er ſich und machte nun die Anſtalten, die die Um-
ſtaͤnde erforderten.
Den 21. Oktober des Morgens in der Daͤmmerung trugen
Stillings Rittersburger Freunde ſeine Gattin hinaus auf
den Gottesacker und beerdigten ſie in der Stille; dieſe letzte
Trennung erleichterten ihm die beiden proteſtantiſchen Predi-
ger, ſeine Freunde, welche bei ihm ſaßen und ihn mit troͤ-
ſtenden Geſpraͤchen unterhielten.
Mit Chriſtinens Tod endigte ſich nun eine große und
wichtige Periode in Stillings Geſchichte, und es begann
allmaͤhlig eine eben ſo wichtige, welche die Zwecke ſeiner bis-
herigen ſchweren Fuͤhrung herrlich und ruhig enthuͤllte.
Nach Chriſtinens Tod ſuchte nun Stilling ſeine ein-
ſame Lebensart zweckmaͤßig einzurichten; er reiste nach Zwei-
bruͤcken, wo er ſehr gute und treue Freunde hatte; dort uͤber-
legte er mit ihnen, wo er ſeine Kinder am beſten in eine
Penſion unterbringen koͤnnte, damit ſie ordentlich erzogen wer-
den moͤchten. Nun fand ſich in Zweibruͤcken eine dem Anſe-
hen nach ſehr gute Gelegenheit; er machte alſo die Sache
richtig, reiste dann zuruͤck und holte ſie ab. Die Tochter
war jetzt im neunten, der Sohn aber ſieben Jahr alt.
Als er aber ſeine Kinder weggebracht hatte, und nun wie-
der in ſeine einſame und oͤde Wohnung kam, ſo fiel alles
Leiden mit unausſprechlich wehmuͤthiger Empfindung auf ihn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/398>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.