Brust weh gethan, Gott sey dir und mir gnädig! -- ich ahne meinen Tod."
Da stand er betäubt, wie vom Schlage gerührt -- matt und abgehärmt vom langwierigen Kummer, glaubte er den Todesstoß zu fühlen; den Kopf auf die Achsel geneigt, vor- wärtshängend, die beiden Hände unter dem Bauch gehalten, starrte er, mit der Angstmiene des Weinens, aber ohne Thrä- nen, auf Einen Fleck, und sagte kein Wort -- denn jetzt ahnete er auch Christinens Tod mit Gewißheit. Endlich ermannte er sich, tröstete sie, und brachte sie zu Bette. Am Abend in der Dämmerung trat die Krankheit in aller ihrer Stärke ein, Christine legte sich wie ein Lamm auf die Schlachtbank und sagte: "Herr mache mit mir, was du willst, ich bin dein Kind -- willst du, daß ich meine Eltern und Geschwister nicht mehr sehen soll, so befehle ich sie Alle in deine Hände, leite sie nur so, daß ich sie dereinst vor deinem Thron wieder sehen möge."
Christinens erste Krankheit war also jetzt ein eigentliches Brustfieber, wozu sich hysterische Paroxismen gesellten, die sich in einem wüthenden Husten äußerten; mehrere Aerzte und alle Mittel wurden gebraucht, sie zu retten; nach 14 Tagen ließ es sich auch zur Besserung an, und es schien, als wenn die Gefahr vorüber wäre. Stilling dichtete also Lobgesänge, und schrieb die frohe Nachricht ihrer Genesung an seine Freunde; allein er betrog sich sehr, sie stand nicht einmal vom Bette auf, im Gegentheil ging ihre Krankheit zu einer förmlichen Lungensucht über; jetzt stieg Stillingen das Wasser an die Seele; der Gedanke war ihm unerträglich, dieses liebe Weib zu verlieren, denn sie war die beste Gattin von der Welt, artig, äußerst gefällig, der Ton ihrer Rede und ihre Bescheidenheit nahm Jedermann ein, ihre Reinlichkeit war ohne Gränzen, rund um sie her war Jedem wohl; in ihrem sehr einfachen Anzug herrschte Zierlichkeit und Ordnung, und Alles, was sie that, geschah mit der äußersten Leichtigkeit und Geschwindigkeit; über das alles war sie unter vertrauten Freun- den lustig, und mit vielem Anstand witzig, dabei aber von Herzen fromm und ohne Heuchelei. Die äußere Larve der Gottseligkeit vermied sie, denn die Erfahrung hatte sie vor
Bruſt weh gethan, Gott ſey dir und mir gnaͤdig! — ich ahne meinen Tod.“
Da ſtand er betaͤubt, wie vom Schlage geruͤhrt — matt und abgehaͤrmt vom langwierigen Kummer, glaubte er den Todesſtoß zu fuͤhlen; den Kopf auf die Achſel geneigt, vor- waͤrtshaͤngend, die beiden Haͤnde unter dem Bauch gehalten, ſtarrte er, mit der Angſtmiene des Weinens, aber ohne Thraͤ- nen, auf Einen Fleck, und ſagte kein Wort — denn jetzt ahnete er auch Chriſtinens Tod mit Gewißheit. Endlich ermannte er ſich, troͤſtete ſie, und brachte ſie zu Bette. Am Abend in der Daͤmmerung trat die Krankheit in aller ihrer Staͤrke ein, Chriſtine legte ſich wie ein Lamm auf die Schlachtbank und ſagte: „Herr mache mit mir, was du willſt, ich bin dein Kind — willſt du, daß ich meine Eltern und Geſchwiſter nicht mehr ſehen ſoll, ſo befehle ich ſie Alle in deine Haͤnde, leite ſie nur ſo, daß ich ſie dereinſt vor deinem Thron wieder ſehen moͤge.“
Chriſtinens erſte Krankheit war alſo jetzt ein eigentliches Bruſtfieber, wozu ſich hyſteriſche Paroxismen geſellten, die ſich in einem wuͤthenden Huſten aͤußerten; mehrere Aerzte und alle Mittel wurden gebraucht, ſie zu retten; nach 14 Tagen ließ es ſich auch zur Beſſerung an, und es ſchien, als wenn die Gefahr voruͤber waͤre. Stilling dichtete alſo Lobgeſaͤnge, und ſchrieb die frohe Nachricht ihrer Geneſung an ſeine Freunde; allein er betrog ſich ſehr, ſie ſtand nicht einmal vom Bette auf, im Gegentheil ging ihre Krankheit zu einer foͤrmlichen Lungenſucht uͤber; jetzt ſtieg Stillingen das Waſſer an die Seele; der Gedanke war ihm unertraͤglich, dieſes liebe Weib zu verlieren, denn ſie war die beſte Gattin von der Welt, artig, aͤußerſt gefaͤllig, der Ton ihrer Rede und ihre Beſcheidenheit nahm Jedermann ein, ihre Reinlichkeit war ohne Graͤnzen, rund um ſie her war Jedem wohl; in ihrem ſehr einfachen Anzug herrſchte Zierlichkeit und Ordnung, und Alles, was ſie that, geſchah mit der aͤußerſten Leichtigkeit und Geſchwindigkeit; uͤber das alles war ſie unter vertrauten Freun- den luſtig, und mit vielem Anſtand witzig, dabei aber von Herzen fromm und ohne Heuchelei. Die aͤußere Larve der Gottſeligkeit vermied ſie, denn die Erfahrung hatte ſie vor
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Bruſt weh gethan, Gott ſey dir und mir gnaͤdig! — ich
ahne meinen Tod.“
Da ſtand er betaͤubt, wie vom Schlage geruͤhrt — matt
und abgehaͤrmt vom langwierigen Kummer, glaubte er den
Todesſtoß zu fuͤhlen; den Kopf auf die Achſel geneigt, vor-
waͤrtshaͤngend, die beiden Haͤnde unter dem Bauch gehalten,
ſtarrte er, mit der Angſtmiene des Weinens, aber ohne Thraͤ-
nen, auf Einen Fleck, und ſagte kein Wort — denn jetzt ahnete
er auch Chriſtinens Tod mit Gewißheit. Endlich ermannte
er ſich, troͤſtete ſie, und brachte ſie zu Bette. Am Abend in
der Daͤmmerung trat die Krankheit in aller ihrer Staͤrke ein,
Chriſtine legte ſich wie ein Lamm auf die Schlachtbank und
ſagte: „Herr mache mit mir, was du willſt, ich bin dein Kind
— willſt du, daß ich meine Eltern und Geſchwiſter nicht mehr
ſehen ſoll, ſo befehle ich ſie Alle in deine Haͤnde, leite ſie nur
ſo, daß ich ſie dereinſt vor deinem Thron wieder ſehen moͤge.“
Chriſtinens erſte Krankheit war alſo jetzt ein eigentliches
Bruſtfieber, wozu ſich hyſteriſche Paroxismen geſellten, die ſich
in einem wuͤthenden Huſten aͤußerten; mehrere Aerzte und
alle Mittel wurden gebraucht, ſie zu retten; nach 14 Tagen
ließ es ſich auch zur Beſſerung an, und es ſchien, als wenn
die Gefahr voruͤber waͤre. Stilling dichtete alſo Lobgeſaͤnge,
und ſchrieb die frohe Nachricht ihrer Geneſung an ſeine Freunde;
allein er betrog ſich ſehr, ſie ſtand nicht einmal vom Bette
auf, im Gegentheil ging ihre Krankheit zu einer foͤrmlichen
Lungenſucht uͤber; jetzt ſtieg Stillingen das Waſſer an
die Seele; der Gedanke war ihm unertraͤglich, dieſes liebe
Weib zu verlieren, denn ſie war die beſte Gattin von der
Welt, artig, aͤußerſt gefaͤllig, der Ton ihrer Rede und ihre
Beſcheidenheit nahm Jedermann ein, ihre Reinlichkeit war
ohne Graͤnzen, rund um ſie her war Jedem wohl; in ihrem
ſehr einfachen Anzug herrſchte Zierlichkeit und Ordnung, und
Alles, was ſie that, geſchah mit der aͤußerſten Leichtigkeit und
Geſchwindigkeit; uͤber das alles war ſie unter vertrauten Freun-
den luſtig, und mit vielem Anſtand witzig, dabei aber von
Herzen fromm und ohne Heuchelei. Die aͤußere Larve der
Gottſeligkeit vermied ſie, denn die Erfahrung hatte ſie vor
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/393>, abgerufen am 23.11.2024.
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