dem Pietismus gewarnt. Das Alles wußte Stilling, er fühlte ihren Werth tief, und konnte daher den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren. Sie selbst bekam nun wieder Lust zum Leben, und tröstete sich mit Hoffnung zur Genesung. Indessen kamen zuweilen die schrecklichen Paroxismen wieder, sie hustete mit einer solchen Gewalt, daß Stückchen Lunge wie Nüsse die Stubenlänge fortflohen; dabei litt sie dann die grausamsten Schmerzen. In aller dieser Noth murrte sie nie, ward nie ungeduldig, sondern rief nur unablässig mit starker Stimme: "Herr, schone meiner nach deiner großen Barmherzigkeit!" -- Wenn dann ihr Mann und ihre Wär- terin für Angst, Mitleiden und Unterstützung schwitzten, so sahe sie mit einer unaussprechlich bittenden Miene Beide an, und sagte: "Mein Engel und mein Alles! Meine liebe Frau N ... habt doch Geduld mit mir, und verzeiht mir die Mühe, die ich Euch verursache." Bekannte standen oft von Ferne an der Thür; auch Arme, die sie erquickt hatte, denn sie war sehr wohlthätig, und weinten laut.
Tage und Nächte kämpfte Stilling; ein Eckchen in sei- ner Studirstube war glatt vom Knieen und naß von Thrä- nen, aber der Himmel war verschlossen, alle feurigen Seufzer prellten zurück, er fühlte, daß Gottes Vaterherz verschlossen war. Weil Christine das harte Treten nicht vertragen konnte, so ging er beständig auf den Strümpfen, er lief in der Noth seines Herzens aus einer Ecke des Zimmers in die andere, bis endlich die Sohlen durchgeschliffen waren, und er Wochen lang auf den bloßen Füßen ging, ohne es einmal zu empfinden. Während aller dieser Zeit kamen immer dro- hende, beleidigende Briefe von Schönenthal an. Herrn Friedenbergs Herz war durch die Erwartung des nahen Todes seiner Tochter zerschmettert, aber doch hörten seine Vor- würfe nicht auf. Er glaubte nun einmal gewiß, Stilling sey Schuld an allem Unglück, und so half keine Entschuldi- gung. Die Lage, worin sich der arme empfindsame Mann jetzt befand, übertrifft alle Beschreibung; je mehr ihn aber die Noth drängte, desto feuriger und ernstlicher klammerte er sich an die erbarmende Liebe Gottes an.
dem Pietismus gewarnt. Das Alles wußte Stilling, er fuͤhlte ihren Werth tief, und konnte daher den Gedanken nicht ertragen, ſie zu verlieren. Sie ſelbſt bekam nun wieder Luſt zum Leben, und troͤſtete ſich mit Hoffnung zur Geneſung. Indeſſen kamen zuweilen die ſchrecklichen Paroxismen wieder, ſie huſtete mit einer ſolchen Gewalt, daß Stuͤckchen Lunge wie Nuͤſſe die Stubenlaͤnge fortflohen; dabei litt ſie dann die grauſamſten Schmerzen. In aller dieſer Noth murrte ſie nie, ward nie ungeduldig, ſondern rief nur unablaͤſſig mit ſtarker Stimme: „Herr, ſchone meiner nach deiner großen Barmherzigkeit!“ — Wenn dann ihr Mann und ihre Waͤr- terin fuͤr Angſt, Mitleiden und Unterſtuͤtzung ſchwitzten, ſo ſahe ſie mit einer unausſprechlich bittenden Miene Beide an, und ſagte: „Mein Engel und mein Alles! Meine liebe Frau N … habt doch Geduld mit mir, und verzeiht mir die Muͤhe, die ich Euch verurſache.“ Bekannte ſtanden oft von Ferne an der Thuͤr; auch Arme, die ſie erquickt hatte, denn ſie war ſehr wohlthaͤtig, und weinten laut.
Tage und Naͤchte kaͤmpfte Stilling; ein Eckchen in ſei- ner Studirſtube war glatt vom Knieen und naß von Thraͤ- nen, aber der Himmel war verſchloſſen, alle feurigen Seufzer prellten zuruͤck, er fuͤhlte, daß Gottes Vaterherz verſchloſſen war. Weil Chriſtine das harte Treten nicht vertragen konnte, ſo ging er beſtaͤndig auf den Struͤmpfen, er lief in der Noth ſeines Herzens aus einer Ecke des Zimmers in die andere, bis endlich die Sohlen durchgeſchliffen waren, und er Wochen lang auf den bloßen Fuͤßen ging, ohne es einmal zu empfinden. Waͤhrend aller dieſer Zeit kamen immer dro- hende, beleidigende Briefe von Schoͤnenthal an. Herrn Friedenbergs Herz war durch die Erwartung des nahen Todes ſeiner Tochter zerſchmettert, aber doch hoͤrten ſeine Vor- wuͤrfe nicht auf. Er glaubte nun einmal gewiß, Stilling ſey Schuld an allem Ungluͤck, und ſo half keine Entſchuldi- gung. Die Lage, worin ſich der arme empfindſame Mann jetzt befand, uͤbertrifft alle Beſchreibung; je mehr ihn aber die Noth draͤngte, deſto feuriger und ernſtlicher klammerte er ſich an die erbarmende Liebe Gottes an.
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dem Pietismus gewarnt. Das Alles wußte Stilling, er
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zum Leben, und troͤſtete ſich mit Hoffnung zur Geneſung.
Indeſſen kamen zuweilen die ſchrecklichen Paroxismen wieder,
ſie huſtete mit einer ſolchen Gewalt, daß Stuͤckchen Lunge
wie Nuͤſſe die Stubenlaͤnge fortflohen; dabei litt ſie dann
die grauſamſten Schmerzen. In aller dieſer Noth murrte ſie
nie, ward nie ungeduldig, ſondern rief nur unablaͤſſig mit
ſtarker Stimme: „Herr, ſchone meiner nach deiner großen
Barmherzigkeit!“ — Wenn dann ihr Mann und ihre Waͤr-
terin fuͤr Angſt, Mitleiden und Unterſtuͤtzung ſchwitzten, ſo
ſahe ſie mit einer unausſprechlich bittenden Miene Beide an,
und ſagte: „Mein Engel und mein Alles! Meine liebe Frau
N … habt doch Geduld mit mir, und verzeiht mir die Muͤhe,
die ich Euch verurſache.“ Bekannte ſtanden oft von Ferne
an der Thuͤr; auch Arme, die ſie erquickt hatte, denn ſie war
ſehr wohlthaͤtig, und weinten laut.
Tage und Naͤchte kaͤmpfte Stilling; ein Eckchen in ſei-
ner Studirſtube war glatt vom Knieen und naß von Thraͤ-
nen, aber der Himmel war verſchloſſen, alle feurigen Seufzer
prellten zuruͤck, er fuͤhlte, daß Gottes Vaterherz verſchloſſen
war. Weil Chriſtine das harte Treten nicht vertragen
konnte, ſo ging er beſtaͤndig auf den Struͤmpfen, er lief in
der Noth ſeines Herzens aus einer Ecke des Zimmers in die
andere, bis endlich die Sohlen durchgeſchliffen waren, und er
Wochen lang auf den bloßen Fuͤßen ging, ohne es einmal
zu empfinden. Waͤhrend aller dieſer Zeit kamen immer dro-
hende, beleidigende Briefe von Schoͤnenthal an. Herrn
Friedenbergs Herz war durch die Erwartung des nahen
Todes ſeiner Tochter zerſchmettert, aber doch hoͤrten ſeine Vor-
wuͤrfe nicht auf. Er glaubte nun einmal gewiß, Stilling
ſey Schuld an allem Ungluͤck, und ſo half keine Entſchuldi-
gung. Die Lage, worin ſich der arme empfindſame Mann
jetzt befand, uͤbertrifft alle Beſchreibung; je mehr ihn aber
die Noth draͤngte, deſto feuriger und ernſtlicher klammerte er
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/394>, abgerufen am 23.11.2024.
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