Jemand; wenn's geräth, so ist es Zufall! ich bin gerade einer von den Alltäglichsten und Ungeschicktesten in meinem Beruf! und was ist denn auch am Ende so Großes aus mir geworden? Doktor der Arzneigelehrsamkeit bin ich, eine gra- duirte Person -- gut, ich bin also ein Mann vom Mittel- stande! kein großes Licht, das Aufsehen macht, und verdiene also keinen solchen Empfang! u. s. w. Dieß waren Stil- lings laute und vollkommene wahre Gedanken, die immer wie Feuerflammen aus seiner Brust hervorloderten, bis er end- lich die Stadt Salen erblickte, und sich nun beruhigte.
Stilling strebte jetzt nicht mehr nach Ehre, sein Stand war ihm vornehm genug, nur sein Mißfallen an seinem Be- ruf, sein Mangel und die Verachtung, in welcher er lebte, machten ihn unglücklich.
Zu Salen hielt sich Doktor Stilling verborgen, er speiste nur zu Mittag, und ritt nach Dillenburg, wo er des Abends ziemlich spät ankam, und bei seinem braven rechtschaffenen Vetter, Johann Stillings zweitem Sohn, der daselbst Bergmeister war, einkehrte. Beide waren von gleichem Alter und von Jugend auf Herzensfreunde gewesen; wie er also hier empfangen wurde, das läßt sich leicht den- ken. Nach einem Rasttag machte er sich wieder auf den Weg- und reiste über Herborn, Wetzlar, Butzbach und Fried- berg nach Frankfurt; hier kam er des Abends an, kehrte im Göthe'schen Hause ein und wurde mit der wärmsten Freundschaft aufgenommen.
Des folgenden Morgens besuchte er den Herrn von Lees- ner, er fand an ihm einen vortrefflichen Greis, voll gefäl- liger Höflichkeit, verbunden mit einer aufgeklärten Religions- gesinnung; seine Augen waren geschickt zur Operation, so daß ihm Stilling die beste Hoffnung machen konnte; der Tag, an welchem der Staar ausgezogen werden sollte, wurde fest- gesetzt. Stilling machte noch einige wichtige Bekanntschaf- ten: er besuchte den alten berühmten Doktor Burggraf, der in der ausgebreitetsten und glücklichsten Praxis alt, grau und gebrechlich geworden war; als dieser vortreffliche Mann Stillingen eine Weile beobachtet hatte, so sagte er: Herr
Jemand; wenn’s geraͤth, ſo iſt es Zufall! ich bin gerade einer von den Alltaͤglichſten und Ungeſchickteſten in meinem Beruf! und was iſt denn auch am Ende ſo Großes aus mir geworden? Doktor der Arzneigelehrſamkeit bin ich, eine gra- duirte Perſon — gut, ich bin alſo ein Mann vom Mittel- ſtande! kein großes Licht, das Aufſehen macht, und verdiene alſo keinen ſolchen Empfang! u. ſ. w. Dieß waren Stil- lings laute und vollkommene wahre Gedanken, die immer wie Feuerflammen aus ſeiner Bruſt hervorloderten, bis er end- lich die Stadt Salen erblickte, und ſich nun beruhigte.
Stilling ſtrebte jetzt nicht mehr nach Ehre, ſein Stand war ihm vornehm genug, nur ſein Mißfallen an ſeinem Be- ruf, ſein Mangel und die Verachtung, in welcher er lebte, machten ihn ungluͤcklich.
Zu Salen hielt ſich Doktor Stilling verborgen, er ſpeiste nur zu Mittag, und ritt nach Dillenburg, wo er des Abends ziemlich ſpaͤt ankam, und bei ſeinem braven rechtſchaffenen Vetter, Johann Stillings zweitem Sohn, der daſelbſt Bergmeiſter war, einkehrte. Beide waren von gleichem Alter und von Jugend auf Herzensfreunde geweſen; wie er alſo hier empfangen wurde, das laͤßt ſich leicht den- ken. Nach einem Raſttag machte er ſich wieder auf den Weg- und reiste uͤber Herborn, Wetzlar, Butzbach und Fried- berg nach Frankfurt; hier kam er des Abends an, kehrte im Goͤthe’ſchen Hauſe ein und wurde mit der waͤrmſten Freundſchaft aufgenommen.
Des folgenden Morgens beſuchte er den Herrn von Lees- ner, er fand an ihm einen vortrefflichen Greis, voll gefaͤl- liger Hoͤflichkeit, verbunden mit einer aufgeklaͤrten Religions- geſinnung; ſeine Augen waren geſchickt zur Operation, ſo daß ihm Stilling die beſte Hoffnung machen konnte; der Tag, an welchem der Staar ausgezogen werden ſollte, wurde feſt- geſetzt. Stilling machte noch einige wichtige Bekanntſchaf- ten: er beſuchte den alten beruͤhmten Doktor Burggraf, der in der ausgebreitetſten und gluͤcklichſten Praxis alt, grau und gebrechlich geworden war; als dieſer vortreffliche Mann Stillingen eine Weile beobachtet hatte, ſo ſagte er: Herr
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Jemand; wenn’s geraͤth, ſo iſt es Zufall! ich bin gerade
einer von den Alltaͤglichſten und Ungeſchickteſten in meinem
Beruf! und was iſt denn auch am Ende ſo Großes aus mir
geworden? Doktor der Arzneigelehrſamkeit bin ich, eine gra-
duirte Perſon — gut, ich bin alſo ein Mann vom Mittel-
ſtande! kein großes Licht, das Aufſehen macht, und verdiene
alſo keinen ſolchen Empfang! u. ſ. w. Dieß waren Stil-
lings laute und vollkommene wahre Gedanken, die immer
wie Feuerflammen aus ſeiner Bruſt hervorloderten, bis er end-
lich die Stadt Salen erblickte, und ſich nun beruhigte.
Stilling ſtrebte jetzt nicht mehr nach Ehre, ſein Stand
war ihm vornehm genug, nur ſein Mißfallen an ſeinem Be-
ruf, ſein Mangel und die Verachtung, in welcher er lebte,
machten ihn ungluͤcklich.
Zu Salen hielt ſich Doktor Stilling verborgen, er
ſpeiste nur zu Mittag, und ritt nach Dillenburg, wo er
des Abends ziemlich ſpaͤt ankam, und bei ſeinem braven
rechtſchaffenen Vetter, Johann Stillings zweitem Sohn,
der daſelbſt Bergmeiſter war, einkehrte. Beide waren von
gleichem Alter und von Jugend auf Herzensfreunde geweſen;
wie er alſo hier empfangen wurde, das laͤßt ſich leicht den-
ken. Nach einem Raſttag machte er ſich wieder auf den Weg-
und reiste uͤber Herborn, Wetzlar, Butzbach und Fried-
berg nach Frankfurt; hier kam er des Abends an, kehrte
im Goͤthe’ſchen Hauſe ein und wurde mit der waͤrmſten
Freundſchaft aufgenommen.
Des folgenden Morgens beſuchte er den Herrn von Lees-
ner, er fand an ihm einen vortrefflichen Greis, voll gefaͤl-
liger Hoͤflichkeit, verbunden mit einer aufgeklaͤrten Religions-
geſinnung; ſeine Augen waren geſchickt zur Operation, ſo daß
ihm Stilling die beſte Hoffnung machen konnte; der Tag,
an welchem der Staar ausgezogen werden ſollte, wurde feſt-
geſetzt. Stilling machte noch einige wichtige Bekanntſchaf-
ten: er beſuchte den alten beruͤhmten Doktor Burggraf,
der in der ausgebreitetſten und gluͤcklichſten Praxis alt, grau
und gebrechlich geworden war; als dieſer vortreffliche Mann
Stillingen eine Weile beobachtet hatte, ſo ſagte er: Herr
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/342>, abgerufen am 22.11.2024.
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