Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

gedrängt ineinander, Alle hatten Stilling als Knabe ge-
kannt; so wie er hineintrat, waren alle Kappen und Hüte
unter den Armen, und Alles war stille, und Jeder sahe ihn
mit Ehrfurcht an. Stilling stand und schaute umher; mit
Thränen in den Augen und mit gebrochener Stimme sagte
er: "Willkommen, willkommen, Ihr lieben Männer und
Freunde! Gott segne einen jeden unter Euch! -- bedeckt Alle
Eure Häupter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus;
was ich bin, ist Gottes Werk, Ihm allein die Ehre!" --
Nun entstand ein Freudegemurmel, Alle wunderten sich und
segneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor setzten sich un-
ter die guten Leute, und alle Augen waren auf sein Betra-
gen, und alle Ohren auf seine Worte gerichtet. Was Vater
Stillings Söhne jetzt empfanden, ist unaussprechlich.

Wie kam's doch, daß aus dem Doktor Stilling so viel
Werks gemacht wurde, und was war die Ursache, daß man
über seine, in jedem Betracht noch mittelmäßige Erhöhung
zum Doktor der Arzneikunde so sehr erstaunte? Es gab in
seinem Vaterlande mehrere Bauernsöhne, die gelehrte und
würdige Männer geworden waren, und doch krähete kein Hahn
darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach-
tet, so war sie ganz natürlich: Stilling war noch vor
neun bis zehn Jahren Schulmeister unter ihnen gewesen; man
hatte ihn allgemein für einen unglücklichen Menschen, und
mitunter für einen hoffnungslosen armen Jüngling angesehen;
dann war er als ein armer verlassener Handwerksbursche fort-
gereist, seine Schicksale in der Fremde hatte er seinem Oheim
und Vater geschrieben, das Gerücht hatte alles Natürliche
bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun-
derwerk erhöht, und daher kam's, daß man ihn als eine Sel-
teuheit zu sehen suchte. Er selbst aber demüthigte sich innig
vor Gott, er kannte seine Lage und Umstände besser, und be-
dauerte, daß man so viel aus ihm machte; indessen thats
ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie
das in Schönenthal sein tägliches Schicksal war.

Des andern Morgens machte er sich mit seinem Vater nach
Leindorf auf den Weg. Johann Stilling gab seinem

gedraͤngt ineinander, Alle hatten Stilling als Knabe ge-
kannt; ſo wie er hineintrat, waren alle Kappen und Huͤte
unter den Armen, und Alles war ſtille, und Jeder ſahe ihn
mit Ehrfurcht an. Stilling ſtand und ſchaute umher; mit
Thraͤnen in den Augen und mit gebrochener Stimme ſagte
er: „Willkommen, willkommen, Ihr lieben Maͤnner und
Freunde! Gott ſegne einen jeden unter Euch! — bedeckt Alle
Eure Haͤupter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus;
was ich bin, iſt Gottes Werk, Ihm allein die Ehre!“ —
Nun entſtand ein Freudegemurmel, Alle wunderten ſich und
ſegneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor ſetzten ſich un-
ter die guten Leute, und alle Augen waren auf ſein Betra-
gen, und alle Ohren auf ſeine Worte gerichtet. Was Vater
Stillings Soͤhne jetzt empfanden, iſt unausſprechlich.

Wie kam’s doch, daß aus dem Doktor Stilling ſo viel
Werks gemacht wurde, und was war die Urſache, daß man
uͤber ſeine, in jedem Betracht noch mittelmaͤßige Erhoͤhung
zum Doktor der Arzneikunde ſo ſehr erſtaunte? Es gab in
ſeinem Vaterlande mehrere Bauernſoͤhne, die gelehrte und
wuͤrdige Maͤnner geworden waren, und doch kraͤhete kein Hahn
darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach-
tet, ſo war ſie ganz natuͤrlich: Stilling war noch vor
neun bis zehn Jahren Schulmeiſter unter ihnen geweſen; man
hatte ihn allgemein fuͤr einen ungluͤcklichen Menſchen, und
mitunter fuͤr einen hoffnungsloſen armen Juͤngling angeſehen;
dann war er als ein armer verlaſſener Handwerksburſche fort-
gereist, ſeine Schickſale in der Fremde hatte er ſeinem Oheim
und Vater geſchrieben, das Geruͤcht hatte alles Natuͤrliche
bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun-
derwerk erhoͤht, und daher kam’s, daß man ihn als eine Sel-
teuheit zu ſehen ſuchte. Er ſelbſt aber demuͤthigte ſich innig
vor Gott, er kannte ſeine Lage und Umſtaͤnde beſſer, und be-
dauerte, daß man ſo viel aus ihm machte; indeſſen thats
ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie
das in Schoͤnenthal ſein taͤgliches Schickſal war.

Des andern Morgens machte er ſich mit ſeinem Vater nach
Leindorf auf den Weg. Johann Stilling gab ſeinem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0340" n="332"/>
gedra&#x0364;ngt ineinander, Alle hatten <hi rendition="#g">Stilling</hi> als Knabe ge-<lb/>
kannt; &#x017F;o wie er hineintrat, waren alle Kappen und Hu&#x0364;te<lb/>
unter den Armen, und Alles war &#x017F;tille, und Jeder &#x017F;ahe ihn<lb/>
mit Ehrfurcht an. <hi rendition="#g">Stilling</hi> &#x017F;tand und &#x017F;chaute umher; mit<lb/>
Thra&#x0364;nen in den Augen und mit gebrochener Stimme &#x017F;agte<lb/>
er: &#x201E;Willkommen, willkommen, Ihr lieben Ma&#x0364;nner und<lb/>
Freunde! Gott &#x017F;egne einen jeden unter Euch! &#x2014; bedeckt Alle<lb/>
Eure Ha&#x0364;upter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus;<lb/>
was ich bin, i&#x017F;t Gottes Werk, Ihm allein die Ehre!&#x201C; &#x2014;<lb/>
Nun ent&#x017F;tand ein Freudegemurmel, Alle wunderten &#x017F;ich und<lb/>
&#x017F;egneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor &#x017F;etzten &#x017F;ich un-<lb/>
ter die guten Leute, und alle Augen waren auf &#x017F;ein Betra-<lb/>
gen, und alle Ohren auf &#x017F;eine Worte gerichtet. Was Vater<lb/><hi rendition="#g">Stillings</hi> So&#x0364;hne jetzt empfanden, i&#x017F;t unaus&#x017F;prechlich.</p><lb/>
            <p>Wie kam&#x2019;s doch, daß aus dem Doktor <hi rendition="#g">Stilling</hi> &#x017F;o viel<lb/>
Werks gemacht wurde, und was war die Ur&#x017F;ache, daß man<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;eine, in jedem Betracht noch mittelma&#x0364;ßige Erho&#x0364;hung<lb/>
zum Doktor der Arzneikunde &#x017F;o &#x017F;ehr er&#x017F;taunte? Es gab in<lb/>
&#x017F;einem Vaterlande mehrere Bauern&#x017F;o&#x0364;hne, die gelehrte und<lb/>
wu&#x0364;rdige Ma&#x0364;nner geworden waren, und doch kra&#x0364;hete kein Hahn<lb/>
darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach-<lb/>
tet, &#x017F;o war &#x017F;ie ganz natu&#x0364;rlich: <hi rendition="#g">Stilling</hi> war noch vor<lb/>
neun bis zehn Jahren Schulmei&#x017F;ter unter ihnen gewe&#x017F;en; man<lb/>
hatte ihn allgemein fu&#x0364;r einen unglu&#x0364;cklichen Men&#x017F;chen, und<lb/>
mitunter fu&#x0364;r einen hoffnungslo&#x017F;en armen Ju&#x0364;ngling ange&#x017F;ehen;<lb/>
dann war er als ein armer verla&#x017F;&#x017F;ener Handwerksbur&#x017F;che fort-<lb/>
gereist, &#x017F;eine Schick&#x017F;ale in der Fremde hatte er &#x017F;einem Oheim<lb/>
und Vater ge&#x017F;chrieben, das Geru&#x0364;cht hatte alles Natu&#x0364;rliche<lb/>
bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun-<lb/>
derwerk erho&#x0364;ht, und daher kam&#x2019;s, daß man ihn als eine Sel-<lb/>
teuheit zu &#x017F;ehen &#x017F;uchte. Er &#x017F;elb&#x017F;t aber demu&#x0364;thigte &#x017F;ich innig<lb/>
vor Gott, er kannte &#x017F;eine Lage und Um&#x017F;ta&#x0364;nde be&#x017F;&#x017F;er, und be-<lb/>
dauerte, daß man &#x017F;o viel aus ihm machte; inde&#x017F;&#x017F;en thats<lb/>
ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie<lb/>
das in <hi rendition="#g">Scho&#x0364;nenthal</hi> &#x017F;ein ta&#x0364;gliches Schick&#x017F;al war.</p><lb/>
            <p>Des andern Morgens machte er &#x017F;ich mit &#x017F;einem Vater nach<lb/><hi rendition="#g">Leindorf</hi> auf den Weg. <hi rendition="#g">Johann Stilling</hi> gab &#x017F;einem<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[332/0340] gedraͤngt ineinander, Alle hatten Stilling als Knabe ge- kannt; ſo wie er hineintrat, waren alle Kappen und Huͤte unter den Armen, und Alles war ſtille, und Jeder ſahe ihn mit Ehrfurcht an. Stilling ſtand und ſchaute umher; mit Thraͤnen in den Augen und mit gebrochener Stimme ſagte er: „Willkommen, willkommen, Ihr lieben Maͤnner und Freunde! Gott ſegne einen jeden unter Euch! — bedeckt Alle Eure Haͤupter, oder ich gehe auf der Stelle wieder hinaus; was ich bin, iſt Gottes Werk, Ihm allein die Ehre!“ — Nun entſtand ein Freudegemurmel, Alle wunderten ſich und ſegneten ihn. Die beiden Alten und der Doktor ſetzten ſich un- ter die guten Leute, und alle Augen waren auf ſein Betra- gen, und alle Ohren auf ſeine Worte gerichtet. Was Vater Stillings Soͤhne jetzt empfanden, iſt unausſprechlich. Wie kam’s doch, daß aus dem Doktor Stilling ſo viel Werks gemacht wurde, und was war die Urſache, daß man uͤber ſeine, in jedem Betracht noch mittelmaͤßige Erhoͤhung zum Doktor der Arzneikunde ſo ſehr erſtaunte? Es gab in ſeinem Vaterlande mehrere Bauernſoͤhne, die gelehrte und wuͤrdige Maͤnner geworden waren, und doch kraͤhete kein Hahn darnach? Wenn man die Sache in ihrer wahren Lage betrach- tet, ſo war ſie ganz natuͤrlich: Stilling war noch vor neun bis zehn Jahren Schulmeiſter unter ihnen geweſen; man hatte ihn allgemein fuͤr einen ungluͤcklichen Menſchen, und mitunter fuͤr einen hoffnungsloſen armen Juͤngling angeſehen; dann war er als ein armer verlaſſener Handwerksburſche fort- gereist, ſeine Schickſale in der Fremde hatte er ſeinem Oheim und Vater geſchrieben, das Geruͤcht hatte alles Natuͤrliche bis zum Wunderbaren, und das Wunderbare bis zum Wun- derwerk erhoͤht, und daher kam’s, daß man ihn als eine Sel- teuheit zu ſehen ſuchte. Er ſelbſt aber demuͤthigte ſich innig vor Gott, er kannte ſeine Lage und Umſtaͤnde beſſer, und be- dauerte, daß man ſo viel aus ihm machte; indeſſen thats ihm doch auch wohl, daß man ihn hier nicht verkannte, wie das in Schoͤnenthal ſein taͤgliches Schickſal war. Des andern Morgens machte er ſich mit ſeinem Vater nach Leindorf auf den Weg. Johann Stilling gab ſeinem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/340
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/340>, abgerufen am 22.11.2024.