seidenen Faden über meinem Haupte, es darf nur fallen, so verschwindet Alles wie eine Seifenblase! Meine Schulden werden immer größer, und ich muß mich fürchten, daß meine Kreditoren zugreifen, mir das Wenige, was ich habe, nehmen, mich dann nackend auf die Straße setzen, und dann habe ich ein zärtliches Weib, die das nicht erträgt, und zwei Kinder, die nach Brod lallen; Gott, der Gedanke war schrecklich! er marterte den armen Stilling Jahre lang unaufhörlich, so daß er keinen frohen Augenblick haben konnte. Endlich ermannt er sich wieder, seine große Erfahrung von Gottes Vatertreue, und dann die wichtige Hoffnung seiner jetzigen Reise ermun- terten ihn wieder, so daß er froh und heiter ins Dorf Licht- hausen hineintrabte.
Er ritt zuerst an das Haus des Schwiegersohns des Jo- hann Stillings, welcher ein Gasthalter war, und also Stallung hatte; hier wurde er von seiner Jugendfreundin und ihrem Manne mit lautem Jubel empfangen; dann wanderte er mit zitternder Freude und klopfendem Herzen zu seines Oheims Haus. Das Gerücht seiner Ankunft war schon durchs ganze Dorf erschollen, alle Fenster stacken voller Köpfe, und so wie er die Hausthür aufmachte, schritten ihm die beiden Brüder Johann und Wilhelm entgegen: er umarmte Einen nach dem Andern, weinte an ihrem Halse und beide Grauköpfe weinten auch die hellen Thränen. "Gesegnet seyn Sie mir!" fing der wahrhafte große Mann, Johann Stil- ling, an; "gesegnet seyn Sie mir, lieber, lieber Herr Vet- ter! unsere Freude ist überschwinglich groß, daß wir Sie am Ziel Ihrer Wünsche sehen; mit Ruhm sind Sie hinaufgestie- gen auf die Stufe der Ehre, Sie sind uns allen entflohen! Sie sind der Stolz unsrer Familie u. s. w." Stilling ant- wortete weiter nichts, als: "Es ist ganz und allein Gottes Werk, Er hat's gethan!" Gern hätte er noch hinzugesetzt: "und dann bin ich nicht glücklich, ich stehe am Rande des Abgrunds;" allein er behielt seinen Kummer für sich und ging ohne weitere Umstände in die Stube.
Hier fand er nun alle Bänke und Stühle mit Nachbarn und Bauern aus dem Dorfe besetzt, und die meisten standen
ſeidenen Faden uͤber meinem Haupte, es darf nur fallen, ſo verſchwindet Alles wie eine Seifenblaſe! Meine Schulden werden immer groͤßer, und ich muß mich fuͤrchten, daß meine Kreditoren zugreifen, mir das Wenige, was ich habe, nehmen, mich dann nackend auf die Straße ſetzen, und dann habe ich ein zaͤrtliches Weib, die das nicht ertraͤgt, und zwei Kinder, die nach Brod lallen; Gott, der Gedanke war ſchrecklich! er marterte den armen Stilling Jahre lang unaufhoͤrlich, ſo daß er keinen frohen Augenblick haben konnte. Endlich ermannt er ſich wieder, ſeine große Erfahrung von Gottes Vatertreue, und dann die wichtige Hoffnung ſeiner jetzigen Reiſe ermun- terten ihn wieder, ſo daß er froh und heiter ins Dorf Licht- hauſen hineintrabte.
Er ritt zuerſt an das Haus des Schwiegerſohns des Jo- hann Stillings, welcher ein Gaſthalter war, und alſo Stallung hatte; hier wurde er von ſeiner Jugendfreundin und ihrem Manne mit lautem Jubel empfangen; dann wanderte er mit zitternder Freude und klopfendem Herzen zu ſeines Oheims Haus. Das Geruͤcht ſeiner Ankunft war ſchon durchs ganze Dorf erſchollen, alle Fenſter ſtacken voller Koͤpfe, und ſo wie er die Hausthuͤr aufmachte, ſchritten ihm die beiden Bruͤder Johann und Wilhelm entgegen: er umarmte Einen nach dem Andern, weinte an ihrem Halſe und beide Graukoͤpfe weinten auch die hellen Thraͤnen. „Geſegnet ſeyn Sie mir!“ fing der wahrhafte große Mann, Johann Stil- ling, an; „geſegnet ſeyn Sie mir, lieber, lieber Herr Vet- ter! unſere Freude iſt uͤberſchwinglich groß, daß wir Sie am Ziel Ihrer Wuͤnſche ſehen; mit Ruhm ſind Sie hinaufgeſtie- gen auf die Stufe der Ehre, Sie ſind uns allen entflohen! Sie ſind der Stolz unſrer Familie u. ſ. w.“ Stilling ant- wortete weiter nichts, als: „Es iſt ganz und allein Gottes Werk, Er hat’s gethan!“ Gern haͤtte er noch hinzugeſetzt: „und dann bin ich nicht gluͤcklich, ich ſtehe am Rande des Abgrunds;“ allein er behielt ſeinen Kummer fuͤr ſich und ging ohne weitere Umſtaͤnde in die Stube.
Hier fand er nun alle Baͤnke und Stuͤhle mit Nachbarn und Bauern aus dem Dorfe beſetzt, und die meiſten ſtanden
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ſeidenen Faden uͤber meinem Haupte, es darf nur fallen, ſo
verſchwindet Alles wie eine Seifenblaſe! Meine Schulden
werden immer groͤßer, und ich muß mich fuͤrchten, daß meine
Kreditoren zugreifen, mir das Wenige, was ich habe, nehmen,
mich dann nackend auf die Straße ſetzen, und dann habe ich
ein zaͤrtliches Weib, die das nicht ertraͤgt, und zwei Kinder,
die nach Brod lallen; Gott, der Gedanke war ſchrecklich! er
marterte den armen Stilling Jahre lang unaufhoͤrlich, ſo
daß er keinen frohen Augenblick haben konnte. Endlich ermannt
er ſich wieder, ſeine große Erfahrung von Gottes Vatertreue,
und dann die wichtige Hoffnung ſeiner jetzigen Reiſe ermun-
terten ihn wieder, ſo daß er froh und heiter ins Dorf Licht-
hauſen hineintrabte.
Er ritt zuerſt an das Haus des Schwiegerſohns des Jo-
hann Stillings, welcher ein Gaſthalter war, und alſo
Stallung hatte; hier wurde er von ſeiner Jugendfreundin und
ihrem Manne mit lautem Jubel empfangen; dann wanderte
er mit zitternder Freude und klopfendem Herzen zu ſeines
Oheims Haus. Das Geruͤcht ſeiner Ankunft war ſchon durchs
ganze Dorf erſchollen, alle Fenſter ſtacken voller Koͤpfe, und
ſo wie er die Hausthuͤr aufmachte, ſchritten ihm die beiden
Bruͤder Johann und Wilhelm entgegen: er umarmte
Einen nach dem Andern, weinte an ihrem Halſe und beide
Graukoͤpfe weinten auch die hellen Thraͤnen. „Geſegnet ſeyn
Sie mir!“ fing der wahrhafte große Mann, Johann Stil-
ling, an; „geſegnet ſeyn Sie mir, lieber, lieber Herr Vet-
ter! unſere Freude iſt uͤberſchwinglich groß, daß wir Sie am
Ziel Ihrer Wuͤnſche ſehen; mit Ruhm ſind Sie hinaufgeſtie-
gen auf die Stufe der Ehre, Sie ſind uns allen entflohen!
Sie ſind der Stolz unſrer Familie u. ſ. w.“ Stilling ant-
wortete weiter nichts, als: „Es iſt ganz und allein Gottes
Werk, Er hat’s gethan!“ Gern haͤtte er noch hinzugeſetzt:
„und dann bin ich nicht gluͤcklich, ich ſtehe am Rande des
Abgrunds;“ allein er behielt ſeinen Kummer fuͤr ſich und ging
ohne weitere Umſtaͤnde in die Stube.
Hier fand er nun alle Baͤnke und Stuͤhle mit Nachbarn
und Bauern aus dem Dorfe beſetzt, und die meiſten ſtanden
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/339>, abgerufen am 25.11.2024.
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