Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Körper, denn er war auf der einen Seite zu zärtlich, zu em-
pfindsam und auf der andern auch zu gewissenhaft, um das
lebenslängliche Glück eines Menschen so auf's Spiel zu setzen.
Er antwortete also kein Wort mehr und trabte fort, unter-
wegs kämpfte er mit sich selbst, allein das Resultat blieb im-
mer, nicht zu operiren. Indessen ließ es die arme Frau
nicht dabei bewenden, sie ging zu ihrem Prediger.

Warum soll ich ihn nicht nennen -- den edlen Mann, den
Auserwählten unter Tausenden, den seligen Theodor Mül-
ler
? -- er war der Vater, der Rathgeber aller seiner Ge-
meindeglieder, der kluge, sanfte, unaussprechlich thätige Knecht
Gottes, ohne Pietist zu seyn; kurz, er war ein Jünger Je-
sus
im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte
ihn früh ab, gewiß, um ihn über viel zu setzen. Lavater
besang seinen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be-
trauerten ihn. Heilig sey mir dein Rest, du Saam-
korn am Tage der Wiederbringung
!

Diesem edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und
sie verklagte zugleich den Doktor Stilling; Müller schrieb
ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die
glücklichen Folgen vorstellte, welche diese Operation nach sich
ziehen würde, im Fall sie gelänge; dagegen schilderte er ihm
auch die unbeträchtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. Stil-
ling
lief in der Noth seines Herzens zu Dinkler und Troost,
Beide riethen ihm ernstlich zur Operation, und der Erste ver-
sprach sogar mitzugehen und ihm beizustehen; dieß machte ihm
einigen Muth, und er entschloß sich mit Zittern und Zagen dazu.

Zu dem allen kam noch ein Umstand: Stilling hatte die
Ausziehung des grauen Staars bei Lobstein in Straßburg
vorzüglich gelernt, sich auch bei Boguer die Instrumente machen
lassen, denn damals war er Willens, diese vortreffliche und
wohlthätige Heilung noch mit seinen übrigen Augenkuren zu ver-
binden; als er aber selbst praktischer Arzt wurde, und all' das
Elend einsehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie-
nung folgte, so wurde er äußerst zaghaft, er durfte nichts wa-
gen, daher verging ihm alle Lust, den Staar zu operiren, und
das alles war auch eine Hauptursache mit, warum er nicht so

Koͤrper, denn er war auf der einen Seite zu zaͤrtlich, zu em-
pfindſam und auf der andern auch zu gewiſſenhaft, um das
lebenslaͤngliche Gluͤck eines Menſchen ſo auf’s Spiel zu ſetzen.
Er antwortete alſo kein Wort mehr und trabte fort, unter-
wegs kaͤmpfte er mit ſich ſelbſt, allein das Reſultat blieb im-
mer, nicht zu operiren. Indeſſen ließ es die arme Frau
nicht dabei bewenden, ſie ging zu ihrem Prediger.

Warum ſoll ich ihn nicht nennen — den edlen Mann, den
Auserwaͤhlten unter Tauſenden, den ſeligen Theodor Muͤl-
ler
? — er war der Vater, der Rathgeber aller ſeiner Ge-
meindeglieder, der kluge, ſanfte, unausſprechlich thaͤtige Knecht
Gottes, ohne Pietiſt zu ſeyn; kurz, er war ein Juͤnger Je-
ſus
im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte
ihn fruͤh ab, gewiß, um ihn uͤber viel zu ſetzen. Lavater
beſang ſeinen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be-
trauerten ihn. Heilig ſey mir dein Reſt, du Saam-
korn am Tage der Wiederbringung
!

Dieſem edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und
ſie verklagte zugleich den Doktor Stilling; Muͤller ſchrieb
ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die
gluͤcklichen Folgen vorſtellte, welche dieſe Operation nach ſich
ziehen wuͤrde, im Fall ſie gelaͤnge; dagegen ſchilderte er ihm
auch die unbetraͤchtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. Stil-
ling
lief in der Noth ſeines Herzens zu Dinkler und Trooſt,
Beide riethen ihm ernſtlich zur Operation, und der Erſte ver-
ſprach ſogar mitzugehen und ihm beizuſtehen; dieß machte ihm
einigen Muth, und er entſchloß ſich mit Zittern und Zagen dazu.

Zu dem allen kam noch ein Umſtand: Stilling hatte die
Ausziehung des grauen Staars bei Lobſtein in Straßburg
vorzuͤglich gelernt, ſich auch bei Boguer die Inſtrumente machen
laſſen, denn damals war er Willens, dieſe vortreffliche und
wohlthaͤtige Heilung noch mit ſeinen uͤbrigen Augenkuren zu ver-
binden; als er aber ſelbſt praktiſcher Arzt wurde, und all’ das
Elend einſehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie-
nung folgte, ſo wurde er aͤußerſt zaghaft, er durfte nichts wa-
gen, daher verging ihm alle Luſt, den Staar zu operiren, und
das alles war auch eine Haupturſache mit, warum er nicht ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0322" n="314"/>
Ko&#x0364;rper, denn er war auf der einen Seite zu za&#x0364;rtlich, zu em-<lb/>
pfind&#x017F;am und auf der andern auch zu gewi&#x017F;&#x017F;enhaft, um das<lb/>
lebensla&#x0364;ngliche Glu&#x0364;ck eines Men&#x017F;chen &#x017F;o auf&#x2019;s Spiel zu &#x017F;etzen.<lb/>
Er antwortete al&#x017F;o kein Wort mehr und trabte fort, unter-<lb/>
wegs ka&#x0364;mpfte er mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, allein das Re&#x017F;ultat blieb im-<lb/>
mer, <hi rendition="#g">nicht zu operiren</hi>. Inde&#x017F;&#x017F;en ließ es die arme Frau<lb/>
nicht dabei bewenden, &#x017F;ie ging zu ihrem Prediger.</p><lb/>
            <p>Warum &#x017F;oll ich ihn nicht nennen &#x2014; den edlen Mann, den<lb/>
Auserwa&#x0364;hlten unter Tau&#x017F;enden, den &#x017F;eligen <hi rendition="#g">Theodor Mu&#x0364;l-<lb/>
ler</hi>? &#x2014; er war der Vater, der Rathgeber aller &#x017F;einer Ge-<lb/>
meindeglieder, der kluge, &#x017F;anfte, unaus&#x017F;prechlich tha&#x0364;tige Knecht<lb/>
Gottes, ohne Pieti&#x017F;t zu &#x017F;eyn; kurz, er war ein Ju&#x0364;nger <hi rendition="#g">Je-<lb/>
&#x017F;us</hi> im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte<lb/>
ihn fru&#x0364;h ab, gewiß, um ihn u&#x0364;ber viel zu &#x017F;etzen. <hi rendition="#g">Lavater</hi><lb/>
be&#x017F;ang &#x017F;einen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be-<lb/>
trauerten ihn. <hi rendition="#g">Heilig &#x017F;ey mir dein Re&#x017F;t, du Saam-<lb/>
korn am Tage der Wiederbringung</hi>!</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;em edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und<lb/>
&#x017F;ie verklagte zugleich den Doktor <hi rendition="#g">Stilling</hi>; Mu&#x0364;ller &#x017F;chrieb<lb/>
ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die<lb/>
glu&#x0364;cklichen Folgen vor&#x017F;tellte, welche die&#x017F;e Operation nach &#x017F;ich<lb/>
ziehen wu&#x0364;rde, im Fall &#x017F;ie gela&#x0364;nge; dagegen &#x017F;childerte er ihm<lb/>
auch die unbetra&#x0364;chtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> lief in der Noth &#x017F;eines Herzens zu <hi rendition="#g">Dinkler</hi> und <hi rendition="#g">Troo&#x017F;t</hi>,<lb/>
Beide riethen ihm ern&#x017F;tlich zur Operation, und der Er&#x017F;te ver-<lb/>
&#x017F;prach &#x017F;ogar mitzugehen und ihm beizu&#x017F;tehen; dieß machte ihm<lb/>
einigen Muth, und er ent&#x017F;chloß &#x017F;ich mit Zittern und Zagen dazu.</p><lb/>
            <p>Zu dem allen kam noch ein Um&#x017F;tand: <hi rendition="#g">Stilling</hi> hatte die<lb/>
Ausziehung des grauen Staars bei <hi rendition="#g">Lob&#x017F;tein</hi> in <hi rendition="#g">Straßburg</hi><lb/>
vorzu&#x0364;glich gelernt, &#x017F;ich auch bei <hi rendition="#g">Boguer</hi> die In&#x017F;trumente machen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, denn damals war er Willens, die&#x017F;e vortreffliche und<lb/>
wohltha&#x0364;tige Heilung noch mit &#x017F;einen u&#x0364;brigen Augenkuren zu ver-<lb/>
binden; als er aber &#x017F;elb&#x017F;t prakti&#x017F;cher Arzt wurde, und all&#x2019; das<lb/>
Elend ein&#x017F;ehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie-<lb/>
nung folgte, &#x017F;o wurde er a&#x0364;ußer&#x017F;t zaghaft, er durfte nichts wa-<lb/>
gen, daher verging ihm alle Lu&#x017F;t, den Staar zu operiren, und<lb/>
das alles war auch eine Hauptur&#x017F;ache mit, warum er nicht &#x017F;o<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0322] Koͤrper, denn er war auf der einen Seite zu zaͤrtlich, zu em- pfindſam und auf der andern auch zu gewiſſenhaft, um das lebenslaͤngliche Gluͤck eines Menſchen ſo auf’s Spiel zu ſetzen. Er antwortete alſo kein Wort mehr und trabte fort, unter- wegs kaͤmpfte er mit ſich ſelbſt, allein das Reſultat blieb im- mer, nicht zu operiren. Indeſſen ließ es die arme Frau nicht dabei bewenden, ſie ging zu ihrem Prediger. Warum ſoll ich ihn nicht nennen — den edlen Mann, den Auserwaͤhlten unter Tauſenden, den ſeligen Theodor Muͤl- ler? — er war der Vater, der Rathgeber aller ſeiner Ge- meindeglieder, der kluge, ſanfte, unausſprechlich thaͤtige Knecht Gottes, ohne Pietiſt zu ſeyn; kurz, er war ein Juͤnger Je- ſus im vollen Sinn des Worts. Sein Prinzipal forderte ihn fruͤh ab, gewiß, um ihn uͤber viel zu ſetzen. Lavater beſang ſeinen Tod, die Armen beweinten und die Reichen be- trauerten ihn. Heilig ſey mir dein Reſt, du Saam- korn am Tage der Wiederbringung! Dieſem edlen Manne klagte die arme Blinde ihre Noth und ſie verklagte zugleich den Doktor Stilling; Muͤller ſchrieb ihm daher einen dringenden Brief, in welchem er ihm alle die gluͤcklichen Folgen vorſtellte, welche dieſe Operation nach ſich ziehen wuͤrde, im Fall ſie gelaͤnge; dagegen ſchilderte er ihm auch die unbetraͤchtlichen Folgen, im Fall des Mißlingens. Stil- ling lief in der Noth ſeines Herzens zu Dinkler und Trooſt, Beide riethen ihm ernſtlich zur Operation, und der Erſte ver- ſprach ſogar mitzugehen und ihm beizuſtehen; dieß machte ihm einigen Muth, und er entſchloß ſich mit Zittern und Zagen dazu. Zu dem allen kam noch ein Umſtand: Stilling hatte die Ausziehung des grauen Staars bei Lobſtein in Straßburg vorzuͤglich gelernt, ſich auch bei Boguer die Inſtrumente machen laſſen, denn damals war er Willens, dieſe vortreffliche und wohlthaͤtige Heilung noch mit ſeinen uͤbrigen Augenkuren zu ver- binden; als er aber ſelbſt praktiſcher Arzt wurde, und all’ das Elend einſehen lernte, welches auf mißlungene Krankenbedie- nung folgte, ſo wurde er aͤußerſt zaghaft, er durfte nichts wa- gen, daher verging ihm alle Luſt, den Staar zu operiren, und das alles war auch eine Haupturſache mit, warum er nicht ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/322
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/322>, abgerufen am 02.06.2024.