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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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neben seinem Pferde, und wollte eben aufsteigen. Nun fing
die arme Frau an:

"Wo ist der Herr Doktor?"

"Hier! was will sie, gute Frau?"

"Ach, sehen Sie mir doch einmal in die Augen, ich bin
"schon etliche Jahre blind, habe zwei Kinder, die ich noch
"nicht gesehen habe, mein Mann ist ein Taglöhner, sonst half
"ich uns mit Spinnen ernähren, nun kann ich das nicht mehr,
"und mein Mann ist recht fleißig, aber er kann's doch allein
"nicht zwingen, und da geht's uns sehr übel; ach, sehen Sie
"doch, ob Sie mir helfen können!"

Stilling sahe ihr in die Augen und sagte: sie hat den
grauen Staar, ihr könnte vielleicht geholfen werden, wenn sich
ein geschickter Mann fände, der sie operirte.

"Verstehen Sie das denn nicht? Herr Doktor!

Ich verstehe das wohl, aber ich hab's noch nie an lebendi-
gen Personen probirt.

"O so probiren Sie es doch an mir!"

Nein, liebe Frau, das probire ich nicht, ich bin zu furcht-
sam dazu, es könnte mißlingen, und dann müßte sie immer
blind bleiben, es wäre ihr nicht mehr zu helfen.

"Wenn ich es aber nun wagen will? -- Sehen Sie, ich
"bin blind, und werde nicht blinder als ich bin, vielleicht
segnet Sie unser Herr Gott, daß es geräth, operiren Sie
mich!"

Bei diesen Worten überlief ihn ein Schauer, Operationen
waren seine Sache nicht, er schwang sich also auf's Pferd und
sagte: Großer Gott! lasse sie mich in Ruhe, ich kann -- ich
kann sie nicht operiren.

,Herr Doktor! Sie müssen; es ist Ihre Schuldigkeit! Gott
"hat Sie dazu berufen, den Armen, Nothleidenden zu helfen,
"sobald Sie können; nun können Sie aber den Staar operi-
"ren, ich will die Erste seyn, will's wagen, und ich verklage
"Sie am jüngsten Gericht, wenn sie mir nicht helfen!"

Das waren nun Dolche in Stillings Herz, er fühlte, daß
die Frau Recht hatte, und doch hatte er eine unüberwindliche
Furcht und Abneigung gegen alle Operationen am menschlichen

neben ſeinem Pferde, und wollte eben aufſteigen. Nun fing
die arme Frau an:

„Wo iſt der Herr Doktor?“

„Hier! was will ſie, gute Frau?“

„Ach, ſehen Sie mir doch einmal in die Augen, ich bin
„ſchon etliche Jahre blind, habe zwei Kinder, die ich noch
„nicht geſehen habe, mein Mann iſt ein Tagloͤhner, ſonſt half
„ich uns mit Spinnen ernaͤhren, nun kann ich das nicht mehr,
„und mein Mann iſt recht fleißig, aber er kann’s doch allein
„nicht zwingen, und da geht’s uns ſehr uͤbel; ach, ſehen Sie
„doch, ob Sie mir helfen koͤnnen!“

Stilling ſahe ihr in die Augen und ſagte: ſie hat den
grauen Staar, ihr koͤnnte vielleicht geholfen werden, wenn ſich
ein geſchickter Mann faͤnde, der ſie operirte.

„Verſtehen Sie das denn nicht? Herr Doktor!

Ich verſtehe das wohl, aber ich hab’s noch nie an lebendi-
gen Perſonen probirt.

„O ſo probiren Sie es doch an mir!“

Nein, liebe Frau, das probire ich nicht, ich bin zu furcht-
ſam dazu, es koͤnnte mißlingen, und dann muͤßte ſie immer
blind bleiben, es waͤre ihr nicht mehr zu helfen.

„Wenn ich es aber nun wagen will? — Sehen Sie, ich
„bin blind, und werde nicht blinder als ich bin, vielleicht
ſegnet Sie unſer Herr Gott, daß es geraͤth, operiren Sie
mich!“

Bei dieſen Worten uͤberlief ihn ein Schauer, Operationen
waren ſeine Sache nicht, er ſchwang ſich alſo auf’s Pferd und
ſagte: Großer Gott! laſſe ſie mich in Ruhe, ich kann — ich
kann ſie nicht operiren.

‚Herr Doktor! Sie muͤſſen; es iſt Ihre Schuldigkeit! Gott
„hat Sie dazu berufen, den Armen, Nothleidenden zu helfen,
„ſobald Sie koͤnnen; nun koͤnnen Sie aber den Staar operi-
„ren, ich will die Erſte ſeyn, will’s wagen, und ich verklage
„Sie am juͤngſten Gericht, wenn ſie mir nicht helfen!“

Das waren nun Dolche in Stillings Herz, er fuͤhlte, daß
die Frau Recht hatte, und doch hatte er eine unuͤberwindliche
Furcht und Abneigung gegen alle Operationen am menſchlichen

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[313/0321] neben ſeinem Pferde, und wollte eben aufſteigen. Nun fing die arme Frau an: „Wo iſt der Herr Doktor?“ „Hier! was will ſie, gute Frau?“ „Ach, ſehen Sie mir doch einmal in die Augen, ich bin „ſchon etliche Jahre blind, habe zwei Kinder, die ich noch „nicht geſehen habe, mein Mann iſt ein Tagloͤhner, ſonſt half „ich uns mit Spinnen ernaͤhren, nun kann ich das nicht mehr, „und mein Mann iſt recht fleißig, aber er kann’s doch allein „nicht zwingen, und da geht’s uns ſehr uͤbel; ach, ſehen Sie „doch, ob Sie mir helfen koͤnnen!“ Stilling ſahe ihr in die Augen und ſagte: ſie hat den grauen Staar, ihr koͤnnte vielleicht geholfen werden, wenn ſich ein geſchickter Mann faͤnde, der ſie operirte. „Verſtehen Sie das denn nicht? Herr Doktor! Ich verſtehe das wohl, aber ich hab’s noch nie an lebendi- gen Perſonen probirt. „O ſo probiren Sie es doch an mir!“ Nein, liebe Frau, das probire ich nicht, ich bin zu furcht- ſam dazu, es koͤnnte mißlingen, und dann muͤßte ſie immer blind bleiben, es waͤre ihr nicht mehr zu helfen. „Wenn ich es aber nun wagen will? — Sehen Sie, ich „bin blind, und werde nicht blinder als ich bin, vielleicht ſegnet Sie unſer Herr Gott, daß es geraͤth, operiren Sie mich!“ Bei dieſen Worten uͤberlief ihn ein Schauer, Operationen waren ſeine Sache nicht, er ſchwang ſich alſo auf’s Pferd und ſagte: Großer Gott! laſſe ſie mich in Ruhe, ich kann — ich kann ſie nicht operiren. ‚Herr Doktor! Sie muͤſſen; es iſt Ihre Schuldigkeit! Gott „hat Sie dazu berufen, den Armen, Nothleidenden zu helfen, „ſobald Sie koͤnnen; nun koͤnnen Sie aber den Staar operi- „ren, ich will die Erſte ſeyn, will’s wagen, und ich verklage „Sie am juͤngſten Gericht, wenn ſie mir nicht helfen!“ Das waren nun Dolche in Stillings Herz, er fuͤhlte, daß die Frau Recht hatte, und doch hatte er eine unuͤberwindliche Furcht und Abneigung gegen alle Operationen am menſchlichen

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/321>, abgerufen am 23.11.2024.