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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Empfindungsorgane hatten, wurde er verachtet: die Gebrüder
Vollkraft aber waren von einem ganz andern Schlag, sie
behandelten ihn vertraulich, er thaute bei ihnen auf, und konnte
sich so zeigen, wie er war.

Friedrich Vollkraft (so hieß der Hofkammerrath) fragte
ihn bei dem ersten Besuch, ob er nicht Etwas geschrieben habe?
Stilling antwortete: Ja! denn er hatte seine Geschichte in
Vorlesungen stückweise an die Gesellschaft der schönen Wissen-
schaften in Straßburg, welche damals noch bestand, ge-
sandt, und die Abschrift davon zurück behalten. Die beiden
Brüder wünschten sehr, sie zu lesen; er brachte sie also bei
dem nächsten Besuch mit, und las sie ihnen vor; sowohl der
Styl als die Deklamation war ihnen so unerwartet, daß sie
laut ausriefen und sagten: das ist schön -- unvergleichlich! --
Sie ermunterten ihn also zum Schreiben und bewogen ihn,
einen Aufsatz in den deutschen Merkur, der damals an-
fing, zu liefern; er that das, und schrieb Ase-Neitha, eine
orientalische Erzählung
, sie steht im ersten Stück des
dritten, und im ersten Stück des vierten Bandes dieser perio-
dischen Schrift, und gefiel allgemein.

Vollkraft wurde durch diese Bekanntschaft Stillings
Stütze, die ihm seinen schweren Gang sehr erleichterte, er hatte
nun in Rüsselstein, wenn er dahin reiste, eine Herberge
und einen Freund, der ihm durch seinen Briefwechsel manchen
erquickenden Sonnenstrahl mittheilte. Indessen wurde er durch
diese Verbindung bei seinen Mitbürgern, und besonders bei den
Pietisten, noch verhaßter, denn in Schönenthal herrscht all-
gemein ein steifes Anhangen an's Religionssystem, und wer im
Geringsten anders denkt, wie das bei den Gebrüdern Voll-
kraft
der Fall war, der ist Anathema Maranatha, so-
gar, wenn sich einer mit Schriftstellerei abgibt, in so fern er
ein Gedicht, das nicht geistlich ist, oder einen Roman, er mag
noch so moralisch seyn, schreibt, so bekommt er schon in ihren
Augen den Anstrich des Freigeistes und wird verhaßt. Freilich
denken nicht alle Schönenthaler Einwohner so, davon wer-
den im Verfolg noch Proben erscheinen; doch aber ist das die
Gesinnung des großen Haufens, und er gibt doch den Ton an.


Empfindungsorgane hatten, wurde er verachtet: die Gebruͤder
Vollkraft aber waren von einem ganz andern Schlag, ſie
behandelten ihn vertraulich, er thaute bei ihnen auf, und konnte
ſich ſo zeigen, wie er war.

Friedrich Vollkraft (ſo hieß der Hofkammerrath) fragte
ihn bei dem erſten Beſuch, ob er nicht Etwas geſchrieben habe?
Stilling antwortete: Ja! denn er hatte ſeine Geſchichte in
Vorleſungen ſtuͤckweiſe an die Geſellſchaft der ſchoͤnen Wiſſen-
ſchaften in Straßburg, welche damals noch beſtand, ge-
ſandt, und die Abſchrift davon zuruͤck behalten. Die beiden
Bruͤder wuͤnſchten ſehr, ſie zu leſen; er brachte ſie alſo bei
dem naͤchſten Beſuch mit, und las ſie ihnen vor; ſowohl der
Styl als die Deklamation war ihnen ſo unerwartet, daß ſie
laut ausriefen und ſagten: das iſt ſchoͤn — unvergleichlich! —
Sie ermunterten ihn alſo zum Schreiben und bewogen ihn,
einen Aufſatz in den deutſchen Merkur, der damals an-
fing, zu liefern; er that das, und ſchrieb Aſe-Neitha, eine
orientaliſche Erzaͤhlung
, ſie ſteht im erſten Stuͤck des
dritten, und im erſten Stuͤck des vierten Bandes dieſer perio-
diſchen Schrift, und gefiel allgemein.

Vollkraft wurde durch dieſe Bekanntſchaft Stillings
Stuͤtze, die ihm ſeinen ſchweren Gang ſehr erleichterte, er hatte
nun in Ruͤſſelſtein, wenn er dahin reiste, eine Herberge
und einen Freund, der ihm durch ſeinen Briefwechſel manchen
erquickenden Sonnenſtrahl mittheilte. Indeſſen wurde er durch
dieſe Verbindung bei ſeinen Mitbuͤrgern, und beſonders bei den
Pietiſten, noch verhaßter, denn in Schoͤnenthal herrſcht all-
gemein ein ſteifes Anhangen an’s Religionsſyſtem, und wer im
Geringſten anders denkt, wie das bei den Gebruͤdern Voll-
kraft
der Fall war, der iſt Anathema Maranatha, ſo-
gar, wenn ſich einer mit Schriftſtellerei abgibt, in ſo fern er
ein Gedicht, das nicht geiſtlich iſt, oder einen Roman, er mag
noch ſo moraliſch ſeyn, ſchreibt, ſo bekommt er ſchon in ihren
Augen den Anſtrich des Freigeiſtes und wird verhaßt. Freilich
denken nicht alle Schoͤnenthaler Einwohner ſo, davon wer-
den im Verfolg noch Proben erſcheinen; doch aber iſt das die
Geſinnung des großen Haufens, und er gibt doch den Ton an.


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[310/0318] Empfindungsorgane hatten, wurde er verachtet: die Gebruͤder Vollkraft aber waren von einem ganz andern Schlag, ſie behandelten ihn vertraulich, er thaute bei ihnen auf, und konnte ſich ſo zeigen, wie er war. Friedrich Vollkraft (ſo hieß der Hofkammerrath) fragte ihn bei dem erſten Beſuch, ob er nicht Etwas geſchrieben habe? Stilling antwortete: Ja! denn er hatte ſeine Geſchichte in Vorleſungen ſtuͤckweiſe an die Geſellſchaft der ſchoͤnen Wiſſen- ſchaften in Straßburg, welche damals noch beſtand, ge- ſandt, und die Abſchrift davon zuruͤck behalten. Die beiden Bruͤder wuͤnſchten ſehr, ſie zu leſen; er brachte ſie alſo bei dem naͤchſten Beſuch mit, und las ſie ihnen vor; ſowohl der Styl als die Deklamation war ihnen ſo unerwartet, daß ſie laut ausriefen und ſagten: das iſt ſchoͤn — unvergleichlich! — Sie ermunterten ihn alſo zum Schreiben und bewogen ihn, einen Aufſatz in den deutſchen Merkur, der damals an- fing, zu liefern; er that das, und ſchrieb Aſe-Neitha, eine orientaliſche Erzaͤhlung, ſie ſteht im erſten Stuͤck des dritten, und im erſten Stuͤck des vierten Bandes dieſer perio- diſchen Schrift, und gefiel allgemein. Vollkraft wurde durch dieſe Bekanntſchaft Stillings Stuͤtze, die ihm ſeinen ſchweren Gang ſehr erleichterte, er hatte nun in Ruͤſſelſtein, wenn er dahin reiste, eine Herberge und einen Freund, der ihm durch ſeinen Briefwechſel manchen erquickenden Sonnenſtrahl mittheilte. Indeſſen wurde er durch dieſe Verbindung bei ſeinen Mitbuͤrgern, und beſonders bei den Pietiſten, noch verhaßter, denn in Schoͤnenthal herrſcht all- gemein ein ſteifes Anhangen an’s Religionsſyſtem, und wer im Geringſten anders denkt, wie das bei den Gebruͤdern Voll- kraft der Fall war, der iſt Anathema Maranatha, ſo- gar, wenn ſich einer mit Schriftſtellerei abgibt, in ſo fern er ein Gedicht, das nicht geiſtlich iſt, oder einen Roman, er mag noch ſo moraliſch ſeyn, ſchreibt, ſo bekommt er ſchon in ihren Augen den Anſtrich des Freigeiſtes und wird verhaßt. Freilich denken nicht alle Schoͤnenthaler Einwohner ſo, davon wer- den im Verfolg noch Proben erſcheinen; doch aber iſt das die Geſinnung des großen Haufens, und er gibt doch den Ton an.

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/318>, abgerufen am 10.06.2024.