ihm so angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beschloß, hinzuspazieren; er ging den Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt und sich ziemlich von den Häusern entfernt hatte, wurde es ihm so wohl in seiner Seele, er vergaß der ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor sich hin; indessen kam er unvermerkt an die Westseite des Geisenber- ger Schlosses. Schon sah er zwischen den Stämmen der Bäume durch auf dem Hügel die zerfallenen Mauern liegen. Das über- raschte ihn ein wenig. Nun rauschte Etwas zur Seite im Ge- sträuche, er schaute hin und sah ein anmuthiges Weibsbild in demselben stehen, blaß, aber zärtlich im Gesicht, in Leine und Baumwolle gekleidet. Er schauderte und das Herz klopfte ihm; da es aber noch früh am Tage war, so fürchtete er sich nicht, sondern fragte: Wo seyd ihr her? Sie antwortete: von Tie- fenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte sie nicht. Wie heißt ihr denn? -- Dortchen. Stilling that einen lauten Schrei und sank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Mäd- chen wußte nicht, wie ihr geschah, sie kannte den jungen Bur- schen auch nicht. Denn sie war erst als Magd aufs Neujahr nach Tiefenbachgekommen. Sie lief zu ihm, kniete bei ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte sich sehr über den jungen Menschen, besonders, da er so weiche Hände und ein so weißes Gesicht hatte: auch waren seine Kleider reiner und sauberer, auch wohl ein wenig besser, als die der andern Burschen. Der Fremde gefiel ihr. Indessen kam Stilling wieder zu sich selber, er sah die Weibsperson nahe bei sich, er richtete sich auf, sah sie starr an und fragte zärtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete sehr freundlich; ich will dür- res Holz lesen. Wo seyd ihr her? Er erwiederte: ich bin auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling's Sohn. Nun hörte er, daß sie seit Neujahr erst Magd daselbst war; und sie hörte seine Umstände, es that Beiden leid, daß sie sich verlassen mußten. Stilling spazierte nach dem Schloß und sie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das Bild dieses Mädchens in seinem Herzen verlosch, so fest hatte es sich seiner Seele eingeprägt. Als die Sonne sich zum Unter-
ihm ſo angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des Februars war, daß er beſchloß, hinzuſpazieren; er ging den Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile umhergewandelt und ſich ziemlich von den Haͤuſern entfernt hatte, wurde es ihm ſo wohl in ſeiner Seele, er vergaß der ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor ſich hin; indeſſen kam er unvermerkt an die Weſtſeite des Geiſenber- ger Schloſſes. Schon ſah er zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber- raſchte ihn ein wenig. Nun rauſchte Etwas zur Seite im Ge- ſtraͤuche, er ſchaute hin und ſah ein anmuthiges Weibsbild in demſelben ſtehen, blaß, aber zaͤrtlich im Geſicht, in Leine und Baumwolle gekleidet. Er ſchauderte und das Herz klopfte ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, ſo fuͤrchtete er ſich nicht, ſondern fragte: Wo ſeyd ihr her? Sie antwortete: von Tie- fenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte ſie nicht. Wie heißt ihr denn? — Dortchen. Stilling that einen lauten Schrei und ſank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd- chen wußte nicht, wie ihr geſchah, ſie kannte den jungen Bur- ſchen auch nicht. Denn ſie war erſt als Magd aufs Neujahr nach Tiefenbachgekommen. Sie lief zu ihm, kniete bei ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte ſich ſehr uͤber den jungen Menſchen, beſonders, da er ſo weiche Haͤnde und ein ſo weißes Geſicht hatte: auch waren ſeine Kleider reiner und ſauberer, auch wohl ein wenig beſſer, als die der andern Burſchen. Der Fremde gefiel ihr. Indeſſen kam Stilling wieder zu ſich ſelber, er ſah die Weibsperſon nahe bei ſich, er richtete ſich auf, ſah ſie ſtarr an und fragte zaͤrtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete ſehr freundlich; ich will duͤr- res Holz leſen. Wo ſeyd ihr her? Er erwiederte: ich bin auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s Sohn. Nun hoͤrte er, daß ſie ſeit Neujahr erſt Magd daſelbſt war; und ſie hoͤrte ſeine Umſtaͤnde, es that Beiden leid, daß ſie ſich verlaſſen mußten. Stilling ſpazierte nach dem Schloß und ſie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das Bild dieſes Maͤdchens in ſeinem Herzen verloſch, ſo feſt hatte es ſich ſeiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne ſich zum Unter-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0136"n="128"/>
ihm ſo angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des<lb/>
Februars war, daß er beſchloß, hinzuſpazieren; er ging den<lb/>
Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile<lb/>
umhergewandelt und ſich ziemlich von den Haͤuſern entfernt<lb/>
hatte, wurde es ihm ſo wohl in ſeiner Seele, er vergaß der<lb/>
ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor ſich hin;<lb/>
indeſſen kam er unvermerkt an die Weſtſeite des <hirendition="#g">Geiſenber-<lb/>
ger</hi> Schloſſes. Schon ſah er zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume<lb/>
durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber-<lb/>
raſchte ihn ein wenig. Nun rauſchte Etwas zur Seite im Ge-<lb/>ſtraͤuche, er ſchaute hin und ſah ein anmuthiges Weibsbild<lb/>
in demſelben ſtehen, blaß, aber zaͤrtlich im Geſicht, in Leine<lb/>
und Baumwolle gekleidet. Er ſchauderte und das Herz klopfte<lb/>
ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, ſo fuͤrchtete er ſich nicht,<lb/>ſondern fragte: Wo ſeyd ihr her? Sie antwortete: von <hirendition="#g">Tie-<lb/>
fenbach</hi>. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte ſie nicht.<lb/>
Wie heißt ihr denn? —<hirendition="#g">Dortchen. Stilling</hi> that einen<lb/>
lauten Schrei und ſank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd-<lb/>
chen wußte nicht, wie ihr geſchah, ſie kannte den jungen Bur-<lb/>ſchen auch nicht. Denn ſie war erſt als Magd aufs Neujahr<lb/>
nach <hirendition="#g">Tiefenbach</hi><choice><sic>gekommeu</sic><corr>gekommen</corr></choice>. Sie lief zu ihm, kniete bei<lb/>
ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte ſich ſehr uͤber<lb/>
den jungen Menſchen, beſonders, da er ſo weiche Haͤnde und<lb/>
ein ſo weißes Geſicht hatte: auch waren ſeine Kleider reiner<lb/>
und ſauberer, auch wohl ein wenig beſſer, als die der andern<lb/>
Burſchen. Der Fremde gefiel ihr. Indeſſen kam <hirendition="#g">Stilling</hi><lb/>
wieder zu ſich ſelber, er ſah die Weibsperſon nahe bei ſich,<lb/>
er richtete ſich auf, ſah ſie ſtarr an und fragte zaͤrtlich: was<lb/>
macht ihr hier? Sie antwortete ſehr freundlich; ich will duͤr-<lb/>
res Holz leſen. Wo ſeyd ihr her? Er erwiederte: ich bin<lb/>
auch von <hirendition="#g">Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s</hi> Sohn.<lb/>
Nun hoͤrte er, daß ſie ſeit Neujahr erſt Magd daſelbſt war;<lb/>
und ſie hoͤrte ſeine Umſtaͤnde, es that Beiden leid, daß ſie<lb/>ſich verlaſſen mußten. <hirendition="#g">Stilling</hi>ſpazierte nach dem Schloß<lb/>
und ſie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das<lb/>
Bild dieſes Maͤdchens in ſeinem Herzen verloſch, ſo feſt hatte<lb/>
es ſich ſeiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne ſich zum Unter-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[128/0136]
ihm ſo angenehm vor, ob es gleich in den letzten Tagen des
Februars war, daß er beſchloß, hinzuſpazieren; er ging den
Berg hinauf und in den Wald hinein. Nachdem er eine Weile
umhergewandelt und ſich ziemlich von den Haͤuſern entfernt
hatte, wurde es ihm ſo wohl in ſeiner Seele, er vergaß der
ganzen Welt und wandelte, in Gedanken vertieft, vor ſich hin;
indeſſen kam er unvermerkt an die Weſtſeite des Geiſenber-
ger Schloſſes. Schon ſah er zwiſchen den Staͤmmen der Baͤume
durch auf dem Huͤgel die zerfallenen Mauern liegen. Das uͤber-
raſchte ihn ein wenig. Nun rauſchte Etwas zur Seite im Ge-
ſtraͤuche, er ſchaute hin und ſah ein anmuthiges Weibsbild
in demſelben ſtehen, blaß, aber zaͤrtlich im Geſicht, in Leine
und Baumwolle gekleidet. Er ſchauderte und das Herz klopfte
ihm; da es aber noch fruͤh am Tage war, ſo fuͤrchtete er ſich nicht,
ſondern fragte: Wo ſeyd ihr her? Sie antwortete: von Tie-
fenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte ſie nicht.
Wie heißt ihr denn? — Dortchen. Stilling that einen
lauten Schrei und ſank zur Erde in Ohnmacht. Das gute Maͤd-
chen wußte nicht, wie ihr geſchah, ſie kannte den jungen Bur-
ſchen auch nicht. Denn ſie war erſt als Magd aufs Neujahr
nach Tiefenbach gekommen. Sie lief zu ihm, kniete bei
ihm auf die Erde und weinte. Sie verwunderte ſich ſehr uͤber
den jungen Menſchen, beſonders, da er ſo weiche Haͤnde und
ein ſo weißes Geſicht hatte: auch waren ſeine Kleider reiner
und ſauberer, auch wohl ein wenig beſſer, als die der andern
Burſchen. Der Fremde gefiel ihr. Indeſſen kam Stilling
wieder zu ſich ſelber, er ſah die Weibsperſon nahe bei ſich,
er richtete ſich auf, ſah ſie ſtarr an und fragte zaͤrtlich: was
macht ihr hier? Sie antwortete ſehr freundlich; ich will duͤr-
res Holz leſen. Wo ſeyd ihr her? Er erwiederte: ich bin
auch von Tiefenbach: Wilhelm Stilling’s Sohn.
Nun hoͤrte er, daß ſie ſeit Neujahr erſt Magd daſelbſt war;
und ſie hoͤrte ſeine Umſtaͤnde, es that Beiden leid, daß ſie
ſich verlaſſen mußten. Stilling ſpazierte nach dem Schloß
und ſie las Holz. Es hat wohl zwei Jahre gedauert, eh das
Bild dieſes Maͤdchens in ſeinem Herzen verloſch, ſo feſt hatte
es ſich ſeiner Seele eingepraͤgt. Als die Sonne ſich zum Unter-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/136>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.