Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzählte aber
nichts von dem, was vorgefallen war, nicht so sehr aus Ver-
schwiegenheit, sondern aus andern Ursachen.

Des andern Tages ging er mit seinem Vater und andern
Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; seine Stiefmutter
empfing ihn mit aller Zärtlichkeit; er gewann sie lieb und
sie liebte ihn wieder; Wilhelm freute sich dessen von Herzen.
Nun erzählte er auch seinen Eltern, wie betrübt es ihm zu
Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er sollte zu Haus
bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm sagte:
"Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht
fehlen; thun's andere Leute nicht, so müssen sie's verantwor-
ten; du mußt aber deine Zeit aushalten." Dieses war Stil-
lingen
auch nicht sehr zuwider. Des andern Morgens reiste
er wieder nach Dorlingen. Allein seine Schüler kamen
nicht wieder; das Frühjahr rückte heran und ein Jeder begab
sich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, so wies man
ihm verächtliche Dienste an, so, daß ihm sein tägliches Brod
recht sauer wurde.

Noch vor Ostern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns
Knechte beschlossen, ihn recht trunken zu machen, um so recht
ihre Freude an ihm zu haben. Als sie des Sonntags aus der
Kirche kamen, sagte einer zum andern: laßt uns ein wenig
wärmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war
kalt und sie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil-
ling
gewohnt, in Gesellschaft nach Haus zu gehen; er trat
deßwegen mit hinein und setzte sich zu dem Ofen. Nun gings
ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup versüßt war;
der Schulmeister mußte mittrinken; er merkte bald, wo das
hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, spie ihn aber
unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefäß.
Die Knechte bekamen also zuerst einen Rausch, und nun
merkten sie nicht mehr auf den Schulmeister, sondern sie be-
trunken sich selbst aufs beste; unter diesen Umständen suchten
sie endlich Ursache an Stilling, um ihn zu schlagen, und
kaum entkam er aus ihren Händen. Er bezahlte seinen An-

Stillings Schriften. I. Band. 9

gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzaͤhlte aber
nichts von dem, was vorgefallen war, nicht ſo ſehr aus Ver-
ſchwiegenheit, ſondern aus andern Urſachen.

Des andern Tages ging er mit ſeinem Vater und andern
Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; ſeine Stiefmutter
empfing ihn mit aller Zaͤrtlichkeit; er gewann ſie lieb und
ſie liebte ihn wieder; Wilhelm freute ſich deſſen von Herzen.
Nun erzaͤhlte er auch ſeinen Eltern, wie betruͤbt es ihm zu
Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er ſollte zu Haus
bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm ſagte:
„Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht
fehlen; thun’s andere Leute nicht, ſo muͤſſen ſie’s verantwor-
ten; du mußt aber deine Zeit aushalten.“ Dieſes war Stil-
lingen
auch nicht ſehr zuwider. Des andern Morgens reiste
er wieder nach Dorlingen. Allein ſeine Schuͤler kamen
nicht wieder; das Fruͤhjahr ruͤckte heran und ein Jeder begab
ſich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, ſo wies man
ihm veraͤchtliche Dienſte an, ſo, daß ihm ſein taͤgliches Brod
recht ſauer wurde.

Noch vor Oſtern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns
Knechte beſchloſſen, ihn recht trunken zu machen, um ſo recht
ihre Freude an ihm zu haben. Als ſie des Sonntags aus der
Kirche kamen, ſagte einer zum andern: laßt uns ein wenig
waͤrmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war
kalt und ſie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil-
ling
gewohnt, in Geſellſchaft nach Haus zu gehen; er trat
deßwegen mit hinein und ſetzte ſich zu dem Ofen. Nun gings
ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup verſuͤßt war;
der Schulmeiſter mußte mittrinken; er merkte bald, wo das
hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, ſpie ihn aber
unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefaͤß.
Die Knechte bekamen alſo zuerſt einen Rauſch, und nun
merkten ſie nicht mehr auf den Schulmeiſter, ſondern ſie be-
trunken ſich ſelbſt aufs beſte; unter dieſen Umſtaͤnden ſuchten
ſie endlich Urſache an Stilling, um ihn zu ſchlagen, und
kaum entkam er aus ihren Haͤnden. Er bezahlte ſeinen An-

Stillings Schriften. I. Band. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0137" n="129"/>
gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erza&#x0364;hlte aber<lb/>
nichts von dem, was vorgefallen war, nicht &#x017F;o &#x017F;ehr aus Ver-<lb/>
&#x017F;chwiegenheit, &#x017F;ondern aus andern Ur&#x017F;achen.</p><lb/>
            <p>Des andern Tages ging er mit &#x017F;einem Vater und andern<lb/>
Freunden nach <hi rendition="#g">Leindorf</hi> zur Hochzeit; &#x017F;eine Stiefmutter<lb/>
empfing ihn mit aller Za&#x0364;rtlichkeit; er gewann &#x017F;ie lieb und<lb/>
&#x017F;ie liebte ihn wieder; <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> freute &#x017F;ich de&#x017F;&#x017F;en von Herzen.<lb/>
Nun erza&#x0364;hlte er auch &#x017F;einen Eltern, wie betru&#x0364;bt es ihm zu<lb/><hi rendition="#g">Dorlingen</hi> ging. Die Mutter rieth, er &#x017F;ollte zu Haus<lb/>
bleiben und nicht wieder hingehen; allein <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> &#x017F;agte:<lb/>
&#x201E;Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht<lb/>
fehlen; thun&#x2019;s andere Leute nicht, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie&#x2019;s verantwor-<lb/>
ten; du mußt aber deine Zeit aushalten.&#x201C; Die&#x017F;es war <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
lingen</hi> auch nicht &#x017F;ehr zuwider. Des andern Morgens reiste<lb/>
er wieder nach <hi rendition="#g">Dorlingen</hi>. Allein &#x017F;eine Schu&#x0364;ler kamen<lb/>
nicht wieder; das Fru&#x0364;hjahr ru&#x0364;ckte heran und ein Jeder begab<lb/>
&#x017F;ich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, &#x017F;o wies man<lb/>
ihm vera&#x0364;chtliche Dien&#x017F;te an, &#x017F;o, daß ihm &#x017F;ein ta&#x0364;gliches Brod<lb/>
recht &#x017F;auer wurde.</p><lb/>
            <p>Noch vor O&#x017F;tern, ehe er abreiste, hatten <hi rendition="#g">Steifmanns</hi><lb/>
Knechte be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, ihn recht trunken zu machen, um &#x017F;o recht<lb/>
ihre Freude an ihm zu haben. Als &#x017F;ie des Sonntags aus der<lb/>
Kirche kamen, &#x017F;agte einer zum andern: laßt uns ein wenig<lb/>
wa&#x0364;rmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war<lb/>
kalt und &#x017F;ie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war <hi rendition="#g">Stil-<lb/>
ling</hi> gewohnt, in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft nach Haus zu gehen; er trat<lb/>
deßwegen mit hinein und &#x017F;etzte &#x017F;ich zu dem Ofen. Nun gings<lb/>
ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup ver&#x017F;u&#x0364;ßt war;<lb/>
der Schulmei&#x017F;ter mußte mittrinken; er merkte bald, wo das<lb/>
hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, &#x017F;pie ihn aber<lb/>
unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefa&#x0364;ß.<lb/>
Die Knechte bekamen al&#x017F;o zuer&#x017F;t einen Rau&#x017F;ch, und nun<lb/>
merkten &#x017F;ie nicht mehr auf den Schulmei&#x017F;ter, &#x017F;ondern &#x017F;ie be-<lb/>
trunken &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t aufs be&#x017F;te; unter die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden &#x017F;uchten<lb/>
&#x017F;ie endlich Ur&#x017F;ache an <hi rendition="#g">Stilling</hi>, um ihn zu &#x017F;chlagen, und<lb/>
kaum entkam er aus ihren Ha&#x0364;nden. Er bezahlte &#x017F;einen An-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Stillings Schriften. <hi rendition="#aq">I.</hi> Band. 9</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[129/0137] gang neigte, ging er wieder nach Haus; er erzaͤhlte aber nichts von dem, was vorgefallen war, nicht ſo ſehr aus Ver- ſchwiegenheit, ſondern aus andern Urſachen. Des andern Tages ging er mit ſeinem Vater und andern Freunden nach Leindorf zur Hochzeit; ſeine Stiefmutter empfing ihn mit aller Zaͤrtlichkeit; er gewann ſie lieb und ſie liebte ihn wieder; Wilhelm freute ſich deſſen von Herzen. Nun erzaͤhlte er auch ſeinen Eltern, wie betruͤbt es ihm zu Dorlingen ging. Die Mutter rieth, er ſollte zu Haus bleiben und nicht wieder hingehen; allein Wilhelm ſagte: „Wir haben noch immer Wort gehalten, es darf an dir nicht fehlen; thun’s andere Leute nicht, ſo muͤſſen ſie’s verantwor- ten; du mußt aber deine Zeit aushalten.“ Dieſes war Stil- lingen auch nicht ſehr zuwider. Des andern Morgens reiste er wieder nach Dorlingen. Allein ſeine Schuͤler kamen nicht wieder; das Fruͤhjahr ruͤckte heran und ein Jeder begab ſich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, ſo wies man ihm veraͤchtliche Dienſte an, ſo, daß ihm ſein taͤgliches Brod recht ſauer wurde. Noch vor Oſtern, ehe er abreiste, hatten Steifmanns Knechte beſchloſſen, ihn recht trunken zu machen, um ſo recht ihre Freude an ihm zu haben. Als ſie des Sonntags aus der Kirche kamen, ſagte einer zum andern: laßt uns ein wenig waͤrmen, ehe wir uns auf den Weg begeben; denn es war kalt und ſie hatten eine Stunde zu gehen. Nun war Stil- ling gewohnt, in Geſellſchaft nach Haus zu gehen; er trat deßwegen mit hinein und ſetzte ſich zu dem Ofen. Nun gings ans Branntweintrinken, der mit einem Syrup verſuͤßt war; der Schulmeiſter mußte mittrinken; er merkte bald, wo das hinaus wollte, daher nahm er den Mund voll, ſpie ihn aber unvermerkt wieder aus, unter den Ofen ins Steinkohlengefaͤß. Die Knechte bekamen alſo zuerſt einen Rauſch, und nun merkten ſie nicht mehr auf den Schulmeiſter, ſondern ſie be- trunken ſich ſelbſt aufs beſte; unter dieſen Umſtaͤnden ſuchten ſie endlich Urſache an Stilling, um ihn zu ſchlagen, und kaum entkam er aus ihren Haͤnden. Er bezahlte ſeinen An- Stillings Schriften. I. Band. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/137
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/137>, abgerufen am 24.11.2024.