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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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II. Formales Moment des Rechts. Der Besitz. §. 61.
ist. 481) Diese Vermittlung zwischen den Interessen und Rechten
der Generationen: zwischen dem Stiftungswillen der Ver-
gangenheit
, der Noth der Gegenwart und der Anwart-
schaft der Zukunft ist eine Frage der höheren historischen Ge-
rechtigkeit, für die nicht die Rechtsregel, sondern das Gewissen
und die freie Einsicht den Ausschlag zu geben hat, -- das Recht
geht bei diesem Punkt in die Administration über.


Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, unsere Definition
des Rechts an einigen Verhältnissen zu erproben, bei denen man
bisher das Vorhandensein eines Rechts übersehen hat. Auch
bei dem Besitz ist bekanntlich die Frage, ob er zu den Rechten zu
zählen, und zu welcher Classe derselben, außerordentlich streitig.
Wenn die bisher entwickelte Begriffsbestimmung des Rechts
richtig ist, so versteht sich die Bejahung der ersteren Frage von
selbst: der Besitz ist ein rechtlich geschütztes Interesse. 482) Da
dies Interesse aber die Sache zum Gegenstande und zwar un-
mittelbar (nicht wie bei der Obligation mittelbar) zum Gegen-
stande hat, so ist der Besitz zu den Rechtsverhältnissen an der
Sache zu stellen. Ganz dasselbe gilt von der bonae fidei pos-

481) Beide Gesichtspunkte sind von Justinian richtig erkannt; der eine
in L. 46 §. 9 Cod. de episc. (1. 3), der andere in L. 21 Cod. de sacr.
eccl. (1. 2)
und Nov. 120 c. 10.
482) Die römischen Juristen erkennen das mit dem Besitz verbundene
Recht nicht selten an z. B. L. 2 Uti poss. (43. 17) und L. 36 i. f. de poss.
(41. 2): plus juris L. 2 §. 38 Ne q. i. l. p. (43. 8) jure possessionis
fruitur L. 44 pr. de poss. (41. 2) jus possessionis non videri peremtum
L. 38 §. 3 de V. O. (45. 1) .. minuitur ex jure, quod habuit.
Wenn sie
andererseits dagegen den Besitz als etwas Faktisches bezeichnen, so steht das
damit keineswegs im Widerspruch. Das Faktum des Innehabens ist die
Grundlage für das Recht des Besitzes, in derselben Weise, wie das Fak-
tum der physischen Existenz des Menschen die Grundlage für das mit ihr ver-
bundene Recht der Persönlichkeit. Hier wie dort geht das Recht mit dem
Faktum unter, aber die Ansprüche aus einer Verletzung desselben dauern fort.
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II. Formales Moment des Rechts. Der Beſitz. §. 61.
iſt. 481) Dieſe Vermittlung zwiſchen den Intereſſen und Rechten
der Generationen: zwiſchen dem Stiftungswillen der Ver-
gangenheit
, der Noth der Gegenwart und der Anwart-
ſchaft der Zukunft iſt eine Frage der höheren hiſtoriſchen Ge-
rechtigkeit, für die nicht die Rechtsregel, ſondern das Gewiſſen
und die freie Einſicht den Ausſchlag zu geben hat, — das Recht
geht bei dieſem Punkt in die Adminiſtration über.


Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, unſere Definition
des Rechts an einigen Verhältniſſen zu erproben, bei denen man
bisher das Vorhandenſein eines Rechts überſehen hat. Auch
bei dem Beſitz iſt bekanntlich die Frage, ob er zu den Rechten zu
zählen, und zu welcher Claſſe derſelben, außerordentlich ſtreitig.
Wenn die bisher entwickelte Begriffsbeſtimmung des Rechts
richtig iſt, ſo verſteht ſich die Bejahung der erſteren Frage von
ſelbſt: der Beſitz iſt ein rechtlich geſchütztes Intereſſe. 482) Da
dies Intereſſe aber die Sache zum Gegenſtande und zwar un-
mittelbar (nicht wie bei der Obligation mittelbar) zum Gegen-
ſtande hat, ſo iſt der Beſitz zu den Rechtsverhältniſſen an der
Sache zu ſtellen. Ganz daſſelbe gilt von der bonae fidei pos-

481) Beide Geſichtspunkte ſind von Juſtinian richtig erkannt; der eine
in L. 46 §. 9 Cod. de episc. (1. 3), der andere in L. 21 Cod. de sacr.
eccl. (1. 2)
und Nov. 120 c. 10.
482) Die römiſchen Juriſten erkennen das mit dem Beſitz verbundene
Recht nicht ſelten an z. B. L. 2 Uti poss. (43. 17) und L. 36 i. f. de poss.
(41. 2): plus juris L. 2 §. 38 Ne q. i. l. p. (43. 8) jure possessionis
fruitur L. 44 pr. de poss. (41. 2) jus possessionis non videri peremtum
L. 38 §. 3 de V. O. (45. 1) .. minuitur ex jure, quod habuit.
Wenn ſie
andererſeits dagegen den Beſitz als etwas Faktiſches bezeichnen, ſo ſteht das
damit keineswegs im Widerſpruch. Das Faktum des Innehabens iſt die
Grundlage für das Recht des Beſitzes, in derſelben Weiſe, wie das Fak-
tum der phyſiſchen Exiſtenz des Menſchen die Grundlage für das mit ihr ver-
bundene Recht der Perſönlichkeit. Hier wie dort geht das Recht mit dem
Faktum unter, aber die Anſprüche aus einer Verletzung deſſelben dauern fort.
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[339/0355] II. Formales Moment des Rechts. Der Beſitz. §. 61. iſt. 481) Dieſe Vermittlung zwiſchen den Intereſſen und Rechten der Generationen: zwiſchen dem Stiftungswillen der Ver- gangenheit, der Noth der Gegenwart und der Anwart- ſchaft der Zukunft iſt eine Frage der höheren hiſtoriſchen Ge- rechtigkeit, für die nicht die Rechtsregel, ſondern das Gewiſſen und die freie Einſicht den Ausſchlag zu geben hat, — das Recht geht bei dieſem Punkt in die Adminiſtration über. Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, unſere Definition des Rechts an einigen Verhältniſſen zu erproben, bei denen man bisher das Vorhandenſein eines Rechts überſehen hat. Auch bei dem Beſitz iſt bekanntlich die Frage, ob er zu den Rechten zu zählen, und zu welcher Claſſe derſelben, außerordentlich ſtreitig. Wenn die bisher entwickelte Begriffsbeſtimmung des Rechts richtig iſt, ſo verſteht ſich die Bejahung der erſteren Frage von ſelbſt: der Beſitz iſt ein rechtlich geſchütztes Intereſſe. 482) Da dies Intereſſe aber die Sache zum Gegenſtande und zwar un- mittelbar (nicht wie bei der Obligation mittelbar) zum Gegen- ſtande hat, ſo iſt der Beſitz zu den Rechtsverhältniſſen an der Sache zu ſtellen. Ganz daſſelbe gilt von der bonae fidei pos- 481) Beide Geſichtspunkte ſind von Juſtinian richtig erkannt; der eine in L. 46 §. 9 Cod. de episc. (1. 3), der andere in L. 21 Cod. de sacr. eccl. (1. 2) und Nov. 120 c. 10. 482) Die römiſchen Juriſten erkennen das mit dem Beſitz verbundene Recht nicht ſelten an z. B. L. 2 Uti poss. (43. 17) und L. 36 i. f. de poss. (41. 2): plus juris L. 2 §. 38 Ne q. i. l. p. (43. 8) jure possessionis fruitur L. 44 pr. de poss. (41. 2) jus possessionis non videri peremtum L. 38 §. 3 de V. O. (45. 1) .. minuitur ex jure, quod habuit. Wenn ſie andererſeits dagegen den Beſitz als etwas Faktiſches bezeichnen, ſo ſteht das damit keineswegs im Widerſpruch. Das Faktum des Innehabens iſt die Grundlage für das Recht des Beſitzes, in derſelben Weiſe, wie das Fak- tum der phyſiſchen Exiſtenz des Menſchen die Grundlage für das mit ihr ver- bundene Recht der Perſönlichkeit. Hier wie dort geht das Recht mit dem Faktum unter, aber die Anſprüche aus einer Verletzung deſſelben dauern fort. 22*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/355>, abgerufen am 10.10.2024.