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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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A. Der Proceß. Seine Präponderanz in d. Kindheit d. Rechts. §. 50.
tige im Proceß einmal gefunden, bedarf es des Suchens nicht
mehr, und Aenderungen in der Volksanschauung, im Leben
u. s. w. üben auf den Proceß, bei dem es sich nicht um sittliche
Ideen, sondern lediglich um Zweckmäßigkeit handelt, einen
ungleich geringeren Einfluß aus, als auf die Institute des ma-
teriellen Rechts. Ohne die Rückwirkung der politischen Verän-
derungen auf die Gerichtsverfassung hätte der Formularpro-
ceß in Rom sich noch Jahrhunderte halten können.

Die Präponderanz des Processes in der Kindheitsperiode
des Rechts äußert sich in einem Doppelten; zunächst in der
Ausbildung des Processes selbst. Letzteres findet wiederum
nach einer zwiefachen Seite hin Statt, einmal nämlich in for-
meller Beziehung: die reiche und detaillirte Ausbildung der pro-
cessualischen Formen, und sodann in materieller: die Strenge
der zur Anwendung gelangenden Grundsätze. In beiderlei
Beziehung darf man behaupten, daß der Proceß in jener Pe-
riode sich ungleich mehr geltend, mehr fühlbar machte, als
heutzutage. Jene Zeit scheint in ihrer rohen Kraft für die Rei-
bung
des Processes (worunter ich jene unvermeidlichen Uebel-
stände des Processes verstehe, die ich oben angedeutet habe)
weniger empfindliche Nerven besessen zu haben, als wir -- je-
denfalls ist diese Reibung heutzutage eine geringere, die Proceß-
Maschine, wie alle Maschinen, eine vollkommnere geworden, als
damals. Die Präponderanz des Processes bethätigt sich zweitens
auch am materiellen Rechte, nämlich durch die Einwirkung,
die er auf alle diejenigen Parthien desselben ausübt, die, wenn
ich so sagen darf, nach der Proceß-Seite hin liegen. 1) Von
einer solchen Einwirkung läßt sich heutzutage kaum sprechen, in
jener Zeit hingegen ist sie eine höchst beträchtliche, und jene dem
Proceß zugekehrten Institute oder Seiten des materiellen Rechts,
beleuchtet und erwärmt von demselben Licht der Intelligenz,

1) Was darunter zu verstehen, darüber s. B. 2 S. 668 und die folgen-
den beiden §§.
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A. Der Proceß. Seine Präponderanz in d. Kindheit d. Rechts. §. 50.
tige im Proceß einmal gefunden, bedarf es des Suchens nicht
mehr, und Aenderungen in der Volksanſchauung, im Leben
u. ſ. w. üben auf den Proceß, bei dem es ſich nicht um ſittliche
Ideen, ſondern lediglich um Zweckmäßigkeit handelt, einen
ungleich geringeren Einfluß aus, als auf die Inſtitute des ma-
teriellen Rechts. Ohne die Rückwirkung der politiſchen Verän-
derungen auf die Gerichtsverfaſſung hätte der Formularpro-
ceß in Rom ſich noch Jahrhunderte halten können.

Die Präponderanz des Proceſſes in der Kindheitsperiode
des Rechts äußert ſich in einem Doppelten; zunächſt in der
Ausbildung des Proceſſes ſelbſt. Letzteres findet wiederum
nach einer zwiefachen Seite hin Statt, einmal nämlich in for-
meller Beziehung: die reiche und detaillirte Ausbildung der pro-
ceſſualiſchen Formen, und ſodann in materieller: die Strenge
der zur Anwendung gelangenden Grundſätze. In beiderlei
Beziehung darf man behaupten, daß der Proceß in jener Pe-
riode ſich ungleich mehr geltend, mehr fühlbar machte, als
heutzutage. Jene Zeit ſcheint in ihrer rohen Kraft für die Rei-
bung
des Proceſſes (worunter ich jene unvermeidlichen Uebel-
ſtände des Proceſſes verſtehe, die ich oben angedeutet habe)
weniger empfindliche Nerven beſeſſen zu haben, als wir — je-
denfalls iſt dieſe Reibung heutzutage eine geringere, die Proceß-
Maſchine, wie alle Maſchinen, eine vollkommnere geworden, als
damals. Die Präponderanz des Proceſſes bethätigt ſich zweitens
auch am materiellen Rechte, nämlich durch die Einwirkung,
die er auf alle diejenigen Parthien deſſelben ausübt, die, wenn
ich ſo ſagen darf, nach der Proceß-Seite hin liegen. 1) Von
einer ſolchen Einwirkung läßt ſich heutzutage kaum ſprechen, in
jener Zeit hingegen iſt ſie eine höchſt beträchtliche, und jene dem
Proceß zugekehrten Inſtitute oder Seiten des materiellen Rechts,
beleuchtet und erwärmt von demſelben Licht der Intelligenz,

1) Was darunter zu verſtehen, darüber ſ. B. 2 S. 668 und die folgen-
den beiden §§.
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[19/0035] A. Der Proceß. Seine Präponderanz in d. Kindheit d. Rechts. §. 50. tige im Proceß einmal gefunden, bedarf es des Suchens nicht mehr, und Aenderungen in der Volksanſchauung, im Leben u. ſ. w. üben auf den Proceß, bei dem es ſich nicht um ſittliche Ideen, ſondern lediglich um Zweckmäßigkeit handelt, einen ungleich geringeren Einfluß aus, als auf die Inſtitute des ma- teriellen Rechts. Ohne die Rückwirkung der politiſchen Verän- derungen auf die Gerichtsverfaſſung hätte der Formularpro- ceß in Rom ſich noch Jahrhunderte halten können. Die Präponderanz des Proceſſes in der Kindheitsperiode des Rechts äußert ſich in einem Doppelten; zunächſt in der Ausbildung des Proceſſes ſelbſt. Letzteres findet wiederum nach einer zwiefachen Seite hin Statt, einmal nämlich in for- meller Beziehung: die reiche und detaillirte Ausbildung der pro- ceſſualiſchen Formen, und ſodann in materieller: die Strenge der zur Anwendung gelangenden Grundſätze. In beiderlei Beziehung darf man behaupten, daß der Proceß in jener Pe- riode ſich ungleich mehr geltend, mehr fühlbar machte, als heutzutage. Jene Zeit ſcheint in ihrer rohen Kraft für die Rei- bung des Proceſſes (worunter ich jene unvermeidlichen Uebel- ſtände des Proceſſes verſtehe, die ich oben angedeutet habe) weniger empfindliche Nerven beſeſſen zu haben, als wir — je- denfalls iſt dieſe Reibung heutzutage eine geringere, die Proceß- Maſchine, wie alle Maſchinen, eine vollkommnere geworden, als damals. Die Präponderanz des Proceſſes bethätigt ſich zweitens auch am materiellen Rechte, nämlich durch die Einwirkung, die er auf alle diejenigen Parthien deſſelben ausübt, die, wenn ich ſo ſagen darf, nach der Proceß-Seite hin liegen. 1) Von einer ſolchen Einwirkung läßt ſich heutzutage kaum ſprechen, in jener Zeit hingegen iſt ſie eine höchſt beträchtliche, und jene dem Proceß zugekehrten Inſtitute oder Seiten des materiellen Rechts, beleuchtet und erwärmt von demſelben Licht der Intelligenz, 1) Was darunter zu verſtehen, darüber ſ. B. 2 S. 668 und die folgen- den beiden §§. 2*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/35>, abgerufen am 25.04.2024.