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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
das zuerst über den Proceß sich ausbreitet, haben in ihrer Ent-
wicklung einen entschiedenen Vorsprung gewonnen vor denjeni-
gen, die, wenn ich im Bilde bleiben darf, nach der Schattenseite
hin gelegen sind.

Es knüpft sich hieran eine eigenthümliche Erscheinung für das
spätere Recht: der Proceß verändert sich, aber die durch ihn her-
vorgerufenen und auf ihn berechneten Sätze des materiellen
Rechts erhalten sich noch eine Zeit lang durch die Macht der Tra-
dition, so wie die Spitzen der Berge noch eine Zeit lang beleuch-
tet bleiben, nachdem die Sonne bereits untergegangen ist. Wer
diese eigenthümliche Bewandniß nicht kennt, kann durch diese
Erscheinung leicht irre geführt werden und müht sich vergebens
ab, die Lichtquelle zu entdecken. Statt aller andern Beispiele
verweise ich auf die Erklärung des Satzes: impensae neces-
sariae dotem ipso jure minuunt
in §. 52.

Die Gestaltung des processualischen Verfahrens ist eine reine
Frage der Zweckmäßigkeit oder der legislativen Politik. Daraus,
daß der Zweck des Processes in einer Analyse des Rechtsver-
hältnisses besteht, das Ent-scheiden regelmäßig durch Schei-
den
geschieht, folgt noch keineswegs, daß der Gedanke der Ana-
lyse auf jene Gestaltung einen bestimmenden Einfluß hätte aus-
üben müssen, der Mechanismus des Processes selbst ein analy-
tischer sein müßte. Unser heutiger Proceß z. B. läßt in seiner
Structur den analytischen Zweck gar nicht hervortreten, letzterer
vollzieht sich vielmehr, ohne durch eine äußere Einrichtung des
Verfahrens unterstützt oder garantirt zu werden, lediglich durch
die subjective Denkthätigkeit des Richters. Das verwickeltste
Rechtsverhältniß kann sich ihm nahen, ein ganzer Knäuel von
Ansprüchen diesseits und jenseits, und er hat den Knäuel zu ent-
wirren, indem er die einzelnen Fäden sondert. Der Besitz der
Rechtskenntniß, deren der Staat sich heutzutage in der Person
seiner Richter versichert, gewährt die Garantie oder soll sie wenig-
stens gewähren, daß er dazu im Stande ist; ist er es aber nicht,
so zwingt der Proceß ihn nicht zum Scheiden, und nichts hindert

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
das zuerſt über den Proceß ſich ausbreitet, haben in ihrer Ent-
wicklung einen entſchiedenen Vorſprung gewonnen vor denjeni-
gen, die, wenn ich im Bilde bleiben darf, nach der Schattenſeite
hin gelegen ſind.

Es knüpft ſich hieran eine eigenthümliche Erſcheinung für das
ſpätere Recht: der Proceß verändert ſich, aber die durch ihn her-
vorgerufenen und auf ihn berechneten Sätze des materiellen
Rechts erhalten ſich noch eine Zeit lang durch die Macht der Tra-
dition, ſo wie die Spitzen der Berge noch eine Zeit lang beleuch-
tet bleiben, nachdem die Sonne bereits untergegangen iſt. Wer
dieſe eigenthümliche Bewandniß nicht kennt, kann durch dieſe
Erſcheinung leicht irre geführt werden und müht ſich vergebens
ab, die Lichtquelle zu entdecken. Statt aller andern Beiſpiele
verweiſe ich auf die Erklärung des Satzes: impensae neces-
sariae dotem ipso jure minuunt
in §. 52.

Die Geſtaltung des proceſſualiſchen Verfahrens iſt eine reine
Frage der Zweckmäßigkeit oder der legislativen Politik. Daraus,
daß der Zweck des Proceſſes in einer Analyſe des Rechtsver-
hältniſſes beſteht, das Ent-ſcheiden regelmäßig durch Schei-
den
geſchieht, folgt noch keineswegs, daß der Gedanke der Ana-
lyſe auf jene Geſtaltung einen beſtimmenden Einfluß hätte aus-
üben müſſen, der Mechanismus des Proceſſes ſelbſt ein analy-
tiſcher ſein müßte. Unſer heutiger Proceß z. B. läßt in ſeiner
Structur den analytiſchen Zweck gar nicht hervortreten, letzterer
vollzieht ſich vielmehr, ohne durch eine äußere Einrichtung des
Verfahrens unterſtützt oder garantirt zu werden, lediglich durch
die ſubjective Denkthätigkeit des Richters. Das verwickeltſte
Rechtsverhältniß kann ſich ihm nahen, ein ganzer Knäuel von
Anſprüchen dieſſeits und jenſeits, und er hat den Knäuel zu ent-
wirren, indem er die einzelnen Fäden ſondert. Der Beſitz der
Rechtskenntniß, deren der Staat ſich heutzutage in der Perſon
ſeiner Richter verſichert, gewährt die Garantie oder ſoll ſie wenig-
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ſo zwingt der Proceß ihn nicht zum Scheiden, und nichts hindert

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[20/0036] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. das zuerſt über den Proceß ſich ausbreitet, haben in ihrer Ent- wicklung einen entſchiedenen Vorſprung gewonnen vor denjeni- gen, die, wenn ich im Bilde bleiben darf, nach der Schattenſeite hin gelegen ſind. Es knüpft ſich hieran eine eigenthümliche Erſcheinung für das ſpätere Recht: der Proceß verändert ſich, aber die durch ihn her- vorgerufenen und auf ihn berechneten Sätze des materiellen Rechts erhalten ſich noch eine Zeit lang durch die Macht der Tra- dition, ſo wie die Spitzen der Berge noch eine Zeit lang beleuch- tet bleiben, nachdem die Sonne bereits untergegangen iſt. Wer dieſe eigenthümliche Bewandniß nicht kennt, kann durch dieſe Erſcheinung leicht irre geführt werden und müht ſich vergebens ab, die Lichtquelle zu entdecken. Statt aller andern Beiſpiele verweiſe ich auf die Erklärung des Satzes: impensae neces- sariae dotem ipso jure minuunt in §. 52. Die Geſtaltung des proceſſualiſchen Verfahrens iſt eine reine Frage der Zweckmäßigkeit oder der legislativen Politik. Daraus, daß der Zweck des Proceſſes in einer Analyſe des Rechtsver- hältniſſes beſteht, das Ent-ſcheiden regelmäßig durch Schei- den geſchieht, folgt noch keineswegs, daß der Gedanke der Ana- lyſe auf jene Geſtaltung einen beſtimmenden Einfluß hätte aus- üben müſſen, der Mechanismus des Proceſſes ſelbſt ein analy- tiſcher ſein müßte. Unſer heutiger Proceß z. B. läßt in ſeiner Structur den analytiſchen Zweck gar nicht hervortreten, letzterer vollzieht ſich vielmehr, ohne durch eine äußere Einrichtung des Verfahrens unterſtützt oder garantirt zu werden, lediglich durch die ſubjective Denkthätigkeit des Richters. Das verwickeltſte Rechtsverhältniß kann ſich ihm nahen, ein ganzer Knäuel von Anſprüchen dieſſeits und jenſeits, und er hat den Knäuel zu ent- wirren, indem er die einzelnen Fäden ſondert. Der Beſitz der Rechtskenntniß, deren der Staat ſich heutzutage in der Perſon ſeiner Richter verſichert, gewährt die Garantie oder ſoll ſie wenig- ſtens gewähren, daß er dazu im Stande iſt; iſt er es aber nicht, ſo zwingt der Proceß ihn nicht zum Scheiden, und nichts hindert

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/36>, abgerufen am 26.04.2024.