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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
des Processes voraussetzt, sondern in der Idee des Processes
selbst gelegen ist, aber eben dieser Umstand beweist mehr als
alles andere, wie unschätzbar die Vortheile des Processes sein
müssen, daß man einen solchen Preis von jeher nicht zu hoch
gefunden hat. Es würde nur einer eben so getreuen Zeichnung
des entgegengesetzten Zustandes bedürfen, den freilich die Phan-
tasie erst ausmalen müßte -- denn die Geschichte kennt ihn nicht
-- um dies Jedem begreiflich erscheinen zu lassen.

Im Anfang ihrer Geschichte werden die Völker diese Erfah-
rung von der Nothwendigkeit des Processes theuer haben bezah-
len müssen, aber diese Erfahrung gehört jedenfalls zu den früh-
sten, die sie überhaupt gemacht haben, denn der Proceß
selbst gehört zu den frühst entwickelten Rechtsin-
stitutionen
. Zu einer Zeit, da die materiellen Rechtsbegriffe
erst in sehr schwachen Umrissen für uns sichtbar werden, begegnet
uns der Proceß bereits in ausgebildeter und präcisirter Gestalt
und bildet einen der ältesten Gegenstände der Gesetzgebung
(B. 2 S. 669). Wie sehr ändert sich dies später! Wie unbe-
deutend werden hier die processualischen Gesetze gegenüber den
materiellen, welche enorme Fortschritte macht das materielle
Recht, wie geringe das Proceßrecht!

Woher dies alles? Daß der Proceß im Anfang der Ge-
schichte sich in dem Maße in den Vordergrund drängt, erklärt
sich sehr einfach. Der Proceß ist eine Einrichtung, die unbestrit-
ten der Reflexion und Berechnung ihren Ursprung verdankt,
denn wer auch noch so sehr der Ansicht huldigt (S. 4), daß
die Völker ihre Rechtsbegriffe mit auf die Welt gebracht ha-
ben, für den Proceß wird auch Er nicht umhin können zu-
zugeben, daß sie ihn machen, erst suchen und probiren muß-
ten, bis sie das Richtige fanden. Daher gehören wiederum
Proceßreformen zu den ältesten in der ganzen Rechtsge-
schichte, sie bezeichnen eben noch jene Periode des Suchens;
darum aber auch werden sie späterhin im Vergleich zu den Aen-
derungen des materiellen Rechts so selten, denn wenn das Rich-

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
des Proceſſes vorausſetzt, ſondern in der Idee des Proceſſes
ſelbſt gelegen iſt, aber eben dieſer Umſtand beweiſt mehr als
alles andere, wie unſchätzbar die Vortheile des Proceſſes ſein
müſſen, daß man einen ſolchen Preis von jeher nicht zu hoch
gefunden hat. Es würde nur einer eben ſo getreuen Zeichnung
des entgegengeſetzten Zuſtandes bedürfen, den freilich die Phan-
taſie erſt ausmalen müßte — denn die Geſchichte kennt ihn nicht
— um dies Jedem begreiflich erſcheinen zu laſſen.

Im Anfang ihrer Geſchichte werden die Völker dieſe Erfah-
rung von der Nothwendigkeit des Proceſſes theuer haben bezah-
len müſſen, aber dieſe Erfahrung gehört jedenfalls zu den früh-
ſten, die ſie überhaupt gemacht haben, denn der Proceß
ſelbſt gehört zu den frühſt entwickelten Rechtsin-
ſtitutionen
. Zu einer Zeit, da die materiellen Rechtsbegriffe
erſt in ſehr ſchwachen Umriſſen für uns ſichtbar werden, begegnet
uns der Proceß bereits in ausgebildeter und präciſirter Geſtalt
und bildet einen der älteſten Gegenſtände der Geſetzgebung
(B. 2 S. 669). Wie ſehr ändert ſich dies ſpäter! Wie unbe-
deutend werden hier die proceſſualiſchen Geſetze gegenüber den
materiellen, welche enorme Fortſchritte macht das materielle
Recht, wie geringe das Proceßrecht!

Woher dies alles? Daß der Proceß im Anfang der Ge-
ſchichte ſich in dem Maße in den Vordergrund drängt, erklärt
ſich ſehr einfach. Der Proceß iſt eine Einrichtung, die unbeſtrit-
ten der Reflexion und Berechnung ihren Urſprung verdankt,
denn wer auch noch ſo ſehr der Anſicht huldigt (S. 4), daß
die Völker ihre Rechtsbegriffe mit auf die Welt gebracht ha-
ben, für den Proceß wird auch Er nicht umhin können zu-
zugeben, daß ſie ihn machen, erſt ſuchen und probiren muß-
ten, bis ſie das Richtige fanden. Daher gehören wiederum
Proceßreformen zu den älteſten in der ganzen Rechtsge-
ſchichte, ſie bezeichnen eben noch jene Periode des Suchens;
darum aber auch werden ſie ſpäterhin im Vergleich zu den Aen-
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[18/0034] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. des Proceſſes vorausſetzt, ſondern in der Idee des Proceſſes ſelbſt gelegen iſt, aber eben dieſer Umſtand beweiſt mehr als alles andere, wie unſchätzbar die Vortheile des Proceſſes ſein müſſen, daß man einen ſolchen Preis von jeher nicht zu hoch gefunden hat. Es würde nur einer eben ſo getreuen Zeichnung des entgegengeſetzten Zuſtandes bedürfen, den freilich die Phan- taſie erſt ausmalen müßte — denn die Geſchichte kennt ihn nicht — um dies Jedem begreiflich erſcheinen zu laſſen. Im Anfang ihrer Geſchichte werden die Völker dieſe Erfah- rung von der Nothwendigkeit des Proceſſes theuer haben bezah- len müſſen, aber dieſe Erfahrung gehört jedenfalls zu den früh- ſten, die ſie überhaupt gemacht haben, denn der Proceß ſelbſt gehört zu den frühſt entwickelten Rechtsin- ſtitutionen. Zu einer Zeit, da die materiellen Rechtsbegriffe erſt in ſehr ſchwachen Umriſſen für uns ſichtbar werden, begegnet uns der Proceß bereits in ausgebildeter und präciſirter Geſtalt und bildet einen der älteſten Gegenſtände der Geſetzgebung (B. 2 S. 669). Wie ſehr ändert ſich dies ſpäter! Wie unbe- deutend werden hier die proceſſualiſchen Geſetze gegenüber den materiellen, welche enorme Fortſchritte macht das materielle Recht, wie geringe das Proceßrecht! Woher dies alles? Daß der Proceß im Anfang der Ge- ſchichte ſich in dem Maße in den Vordergrund drängt, erklärt ſich ſehr einfach. Der Proceß iſt eine Einrichtung, die unbeſtrit- ten der Reflexion und Berechnung ihren Urſprung verdankt, denn wer auch noch ſo ſehr der Anſicht huldigt (S. 4), daß die Völker ihre Rechtsbegriffe mit auf die Welt gebracht ha- ben, für den Proceß wird auch Er nicht umhin können zu- zugeben, daß ſie ihn machen, erſt ſuchen und probiren muß- ten, bis ſie das Richtige fanden. Daher gehören wiederum Proceßreformen zu den älteſten in der ganzen Rechtsge- ſchichte, ſie bezeichnen eben noch jene Periode des Suchens; darum aber auch werden ſie ſpäterhin im Vergleich zu den Aen- derungen des materiellen Rechts ſo ſelten, denn wenn das Rich-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/34>, abgerufen am 24.11.2024.