A. Der Proceß. Nothwendigkeit der Proceßordnung. §. 50.
Es würde Jemand nicht viele Processe zu führen brauchen, um sich von der Irrigkeit dieser Ansicht zu überzeugen. Rechts- pflege und gesetzliche Ordnung des processuali- schen Verfahrens ist gleichbedeutend, denn Freiheit des Verfahrens heißt Freiheit richterlicher Willkür und Parthei- lichkeit, Freiheit der Chikane und der Verschleppung des Pro- cesses. Freilich: wäre das Suchen nach Wahrheit auf Seiten der Partheien ein ebenso uninteressirtes, wie es auf Seiten des Richters sein soll, das Recht brauchte sie dabei in keiner Weise zu beschränken, allein dem Interesse an der Ermittlung der Wahr- heit auf der einen Seite steht auf der andern das gerade entge- gengesetzte gegenüber, auf beiden Seiten reicht das Interesse an der Wahrheit nur so weit als das Interesse, und eben dieser Umstand allein schon würde eine Ordnung des Processes nöthig machen, der sonstigen Rücksichten, die wir hier nicht nam- haft machen wollen, zu geschweigen.
Der Proceß also ist eine Nothwendigkeit. Wie bei fast allen Institutionen die Vortheile, die sie gewähren, mit gewissen Nachtheilen erkauft werden müssen, so auch beim Proceß, und gerade er läßt sich die letzteren recht theuer, bei fehlerhafter Organisation sogar unerträglich hoch bezahlen. Es ist ein Leich- tes, eine Beschreibung vom Proceß zu entwerfen, welche ihn dem Unkundigen im abschreckendsten Licht erscheinen läßt, und zwar ohne im Mindesten zu übertreiben. Oder wäre es Ueber- treibung, wenn wir ihn so definirten: der Proceß ist eine Ein- richtung, welche die Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung häuft und vermehrt, indem sie zu den materiellen Fragen noch die for- mellen hinzufügt, -- welche den Richter in der Ermittlung der Wahrheit beschränkt und hemmt und ihn nicht selten zwingt, ge- gen seine Ueberzeugung ein Urtheil zu fällen, -- welche die Widerstandskraft des Unrechts gegen das Recht erhöht und in ihren Formvorschriften Netze und Fußangeln ausstellt, in denen sich oft die gerechteste Sache fängt? Alles dies ist wahr, ja in dem Maße, daß es nicht eine besonders fehlerhafte Organisation
Jhering, Geist d. röm. Rechts. III. 2
A. Der Proceß. Nothwendigkeit der Proceßordnung. §. 50.
Es würde Jemand nicht viele Proceſſe zu führen brauchen, um ſich von der Irrigkeit dieſer Anſicht zu überzeugen. Rechts- pflege und geſetzliche Ordnung des proceſſuali- ſchen Verfahrens iſt gleichbedeutend, denn Freiheit des Verfahrens heißt Freiheit richterlicher Willkür und Parthei- lichkeit, Freiheit der Chikane und der Verſchleppung des Pro- ceſſes. Freilich: wäre das Suchen nach Wahrheit auf Seiten der Partheien ein ebenſo unintereſſirtes, wie es auf Seiten des Richters ſein ſoll, das Recht brauchte ſie dabei in keiner Weiſe zu beſchränken, allein dem Intereſſe an der Ermittlung der Wahr- heit auf der einen Seite ſteht auf der andern das gerade entge- gengeſetzte gegenüber, auf beiden Seiten reicht das Intereſſe an der Wahrheit nur ſo weit als das Intereſſe, und eben dieſer Umſtand allein ſchon würde eine Ordnung des Proceſſes nöthig machen, der ſonſtigen Rückſichten, die wir hier nicht nam- haft machen wollen, zu geſchweigen.
Der Proceß alſo iſt eine Nothwendigkeit. Wie bei faſt allen Inſtitutionen die Vortheile, die ſie gewähren, mit gewiſſen Nachtheilen erkauft werden müſſen, ſo auch beim Proceß, und gerade er läßt ſich die letzteren recht theuer, bei fehlerhafter Organiſation ſogar unerträglich hoch bezahlen. Es iſt ein Leich- tes, eine Beſchreibung vom Proceß zu entwerfen, welche ihn dem Unkundigen im abſchreckendſten Licht erſcheinen läßt, und zwar ohne im Mindeſten zu übertreiben. Oder wäre es Ueber- treibung, wenn wir ihn ſo definirten: der Proceß iſt eine Ein- richtung, welche die Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung häuft und vermehrt, indem ſie zu den materiellen Fragen noch die for- mellen hinzufügt, — welche den Richter in der Ermittlung der Wahrheit beſchränkt und hemmt und ihn nicht ſelten zwingt, ge- gen ſeine Ueberzeugung ein Urtheil zu fällen, — welche die Widerſtandskraft des Unrechts gegen das Recht erhöht und in ihren Formvorſchriften Netze und Fußangeln ausſtellt, in denen ſich oft die gerechteſte Sache fängt? Alles dies iſt wahr, ja in dem Maße, daß es nicht eine beſonders fehlerhafte Organiſation
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 2
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A. Der Proceß. Nothwendigkeit der Proceßordnung. §. 50.
Es würde Jemand nicht viele Proceſſe zu führen brauchen,
um ſich von der Irrigkeit dieſer Anſicht zu überzeugen. Rechts-
pflege und geſetzliche Ordnung des proceſſuali-
ſchen Verfahrens iſt gleichbedeutend, denn Freiheit
des Verfahrens heißt Freiheit richterlicher Willkür und Parthei-
lichkeit, Freiheit der Chikane und der Verſchleppung des Pro-
ceſſes. Freilich: wäre das Suchen nach Wahrheit auf Seiten
der Partheien ein ebenſo unintereſſirtes, wie es auf Seiten des
Richters ſein ſoll, das Recht brauchte ſie dabei in keiner Weiſe
zu beſchränken, allein dem Intereſſe an der Ermittlung der Wahr-
heit auf der einen Seite ſteht auf der andern das gerade entge-
gengeſetzte gegenüber, auf beiden Seiten reicht das Intereſſe an
der Wahrheit nur ſo weit als das Intereſſe, und eben
dieſer Umſtand allein ſchon würde eine Ordnung des Proceſſes
nöthig machen, der ſonſtigen Rückſichten, die wir hier nicht nam-
haft machen wollen, zu geſchweigen.
Der Proceß alſo iſt eine Nothwendigkeit. Wie
bei faſt allen Inſtitutionen die Vortheile, die ſie gewähren, mit
gewiſſen Nachtheilen erkauft werden müſſen, ſo auch beim Proceß,
und gerade er läßt ſich die letzteren recht theuer, bei fehlerhafter
Organiſation ſogar unerträglich hoch bezahlen. Es iſt ein Leich-
tes, eine Beſchreibung vom Proceß zu entwerfen, welche ihn
dem Unkundigen im abſchreckendſten Licht erſcheinen läßt, und
zwar ohne im Mindeſten zu übertreiben. Oder wäre es Ueber-
treibung, wenn wir ihn ſo definirten: der Proceß iſt eine Ein-
richtung, welche die Schwierigkeiten der Rechtsverfolgung häuft
und vermehrt, indem ſie zu den materiellen Fragen noch die for-
mellen hinzufügt, — welche den Richter in der Ermittlung der
Wahrheit beſchränkt und hemmt und ihn nicht ſelten zwingt, ge-
gen ſeine Ueberzeugung ein Urtheil zu fällen, — welche die
Widerſtandskraft des Unrechts gegen das Recht erhöht und in
ihren Formvorſchriften Netze und Fußangeln ausſtellt, in denen
ſich oft die gerechteſte Sache fängt? Alles dies iſt wahr, ja in
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/33>, abgerufen am 22.07.2024.
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