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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. B. Die juristische Oekonomie.
wie das Scheingeschäft: den einer technischen Nothlüge --
aber indem sie andererseits einen leichteren, bequemeren Weg
einschlägt, der praktisch ganz zu demselben Ziele führt, erleich-
tert sie damit den Fortschritt,
macht ihn möglich zu einer
Zeit, wo es der Wissenschaft noch an der Kraft fehlen würde,
die Aufgabe in ihrer vollen Gestalt zu bemeistern. Ohne die
Fictionen wären manche einflußreiche Aenderungen des römischen
Rechts wahrscheinlich erst in viel späterer Zeit erfolgt. Es ist
leicht sagen: Fictionen seien Nothbehelfe, Krücken, deren sich die
Wissenschaft nicht bedienen solle. Sobald sie ohne sie fertig wer-
den kann, gewiß nicht! Aber immer besser, daß sie mit Krücken
geht, als ohne Krücken ausgleitet oder sich nicht aus der
Stelle wagt. Es ist daher nicht Zufall, sondern ein richtiger
Instinkt, der die Wissenschaft in ihrer Jugendperiode zu dieser
Krücke greifen heißt, und auch hier kann wiederum das Beispiel
des englischen Rechts, das von diesem Mittel die ausgedehnteste
Verwendung gemacht hat, uns belehren, daß wir es nicht mit
einer specifisch römischen, sondern mit einer Einrichtung zu thun
haben, die auf einer gewissen Stufe der geistigen Entwicklung
mit innerer Nothwendigkeit zu Tage getrieben wird. Selbst
wenn die Wissenschaft die Kinderschuhe ausgetreten hat, und die
tausendjährige Uebung des Denkens in ihr endlich jene Sicher-
heit und Fertigkeit des abstracten Denkens gezeitigt hat, die er-
forderlich ist, um die theoretischen Grundlagen einer Lehre neu
zu gestalten, kann immerhin doch als erster Ansatz zur Bewäl-
tigung eines völlig neuen Gedankens -- im theoretischen
Nothstand
-- die Fiction eine gewisse Berechtigung haben.
Besser Ordnung mit Fiction, als Unordnung ohne Fiction!

Jede Fiction jedoch diene der Wissenschaft zugleich als Auf-
forderung sich ihrer bald möglichst zu entledigen, denn mit jeder
Fiction legt sie das Eingeständniß unvollkommener Lösung des
Problems ab. Aber ihr zumuthen, die Fiction über Bord zu wer-
fen, bevor die wirkliche Lösung gelungen, hieße den Krücken-
träger auffordern, die Krücken fortzuwerfen, bevor er gehen kann.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie.
wie das Scheingeſchäft: den einer techniſchen Nothlüge
aber indem ſie andererſeits einen leichteren, bequemeren Weg
einſchlägt, der praktiſch ganz zu demſelben Ziele führt, erleich-
tert ſie damit den Fortſchritt,
macht ihn möglich zu einer
Zeit, wo es der Wiſſenſchaft noch an der Kraft fehlen würde,
die Aufgabe in ihrer vollen Geſtalt zu bemeiſtern. Ohne die
Fictionen wären manche einflußreiche Aenderungen des römiſchen
Rechts wahrſcheinlich erſt in viel ſpäterer Zeit erfolgt. Es iſt
leicht ſagen: Fictionen ſeien Nothbehelfe, Krücken, deren ſich die
Wiſſenſchaft nicht bedienen ſolle. Sobald ſie ohne ſie fertig wer-
den kann, gewiß nicht! Aber immer beſſer, daß ſie mit Krücken
geht, als ohne Krücken ausgleitet oder ſich nicht aus der
Stelle wagt. Es iſt daher nicht Zufall, ſondern ein richtiger
Inſtinkt, der die Wiſſenſchaft in ihrer Jugendperiode zu dieſer
Krücke greifen heißt, und auch hier kann wiederum das Beiſpiel
des engliſchen Rechts, das von dieſem Mittel die ausgedehnteſte
Verwendung gemacht hat, uns belehren, daß wir es nicht mit
einer ſpecifiſch römiſchen, ſondern mit einer Einrichtung zu thun
haben, die auf einer gewiſſen Stufe der geiſtigen Entwicklung
mit innerer Nothwendigkeit zu Tage getrieben wird. Selbſt
wenn die Wiſſenſchaft die Kinderſchuhe ausgetreten hat, und die
tauſendjährige Uebung des Denkens in ihr endlich jene Sicher-
heit und Fertigkeit des abſtracten Denkens gezeitigt hat, die er-
forderlich iſt, um die theoretiſchen Grundlagen einer Lehre neu
zu geſtalten, kann immerhin doch als erſter Anſatz zur Bewäl-
tigung eines völlig neuen Gedankens — im theoretiſchen
Nothſtand
— die Fiction eine gewiſſe Berechtigung haben.
Beſſer Ordnung mit Fiction, als Unordnung ohne Fiction!

Jede Fiction jedoch diene der Wiſſenſchaft zugleich als Auf-
forderung ſich ihrer bald möglichſt zu entledigen, denn mit jeder
Fiction legt ſie das Eingeſtändniß unvollkommener Löſung des
Problems ab. Aber ihr zumuthen, die Fiction über Bord zu wer-
fen, bevor die wirkliche Löſung gelungen, hieße den Krücken-
träger auffordern, die Krücken fortzuwerfen, bevor er gehen kann.

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[288/0304] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. B. Die juriſtiſche Oekonomie. wie das Scheingeſchäft: den einer techniſchen Nothlüge — aber indem ſie andererſeits einen leichteren, bequemeren Weg einſchlägt, der praktiſch ganz zu demſelben Ziele führt, erleich- tert ſie damit den Fortſchritt, macht ihn möglich zu einer Zeit, wo es der Wiſſenſchaft noch an der Kraft fehlen würde, die Aufgabe in ihrer vollen Geſtalt zu bemeiſtern. Ohne die Fictionen wären manche einflußreiche Aenderungen des römiſchen Rechts wahrſcheinlich erſt in viel ſpäterer Zeit erfolgt. Es iſt leicht ſagen: Fictionen ſeien Nothbehelfe, Krücken, deren ſich die Wiſſenſchaft nicht bedienen ſolle. Sobald ſie ohne ſie fertig wer- den kann, gewiß nicht! Aber immer beſſer, daß ſie mit Krücken geht, als ohne Krücken ausgleitet oder ſich nicht aus der Stelle wagt. Es iſt daher nicht Zufall, ſondern ein richtiger Inſtinkt, der die Wiſſenſchaft in ihrer Jugendperiode zu dieſer Krücke greifen heißt, und auch hier kann wiederum das Beiſpiel des engliſchen Rechts, das von dieſem Mittel die ausgedehnteſte Verwendung gemacht hat, uns belehren, daß wir es nicht mit einer ſpecifiſch römiſchen, ſondern mit einer Einrichtung zu thun haben, die auf einer gewiſſen Stufe der geiſtigen Entwicklung mit innerer Nothwendigkeit zu Tage getrieben wird. Selbſt wenn die Wiſſenſchaft die Kinderſchuhe ausgetreten hat, und die tauſendjährige Uebung des Denkens in ihr endlich jene Sicher- heit und Fertigkeit des abſtracten Denkens gezeitigt hat, die er- forderlich iſt, um die theoretiſchen Grundlagen einer Lehre neu zu geſtalten, kann immerhin doch als erſter Anſatz zur Bewäl- tigung eines völlig neuen Gedankens — im theoretiſchen Nothſtand — die Fiction eine gewiſſe Berechtigung haben. Beſſer Ordnung mit Fiction, als Unordnung ohne Fiction! Jede Fiction jedoch diene der Wiſſenſchaft zugleich als Auf- forderung ſich ihrer bald möglichſt zu entledigen, denn mit jeder Fiction legt ſie das Eingeſtändniß unvollkommener Löſung des Problems ab. Aber ihr zumuthen, die Fiction über Bord zu wer- fen, bevor die wirkliche Löſung gelungen, hieße den Krücken- träger auffordern, die Krücken fortzuwerfen, bevor er gehen kann.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/304>, abgerufen am 22.11.2024.