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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Die künstlichen Mittel. §. 58.

Völlig verschieden von den Fictionen, die ich im Bisherigen
im Auge gehabt habe, und die ich als historische bezeichnen
möchte, sind zwei andere Verhältnisse, auf die ebenfalls der Name
angewandt worden ist. War es eine Fiction, wenn die lex de
arrogatione
dem arrogirten Kinde die Stellung des natürlichen
anwies? Sicherlich nicht,420) es war zwar eine Gleichstellung,
aber nicht jede Gleichstellung ist eine Fiction. Oder wäre es
eine Fiction, wenn ein heutiges Gesetz die Juden den Christen
gleichstellt? Allerdings enthält auch die Fiction eine Gleichstel-
lung -- man denke an das Beispiel des bonorum emptor und
bonorum possessor (S. 286) -- aber das Charakteristische ist
die Form, in der sie dieselbe vermittelt, und der Zweck, dessent-
wegen sie dies thut. Anstatt den Rechtssatz so zu erweitern, daß
das Verhältniß, auf das er ausgedehnt werden soll, darunter
Platz findet, wird umgekehrt das Verhältniß in gewaltsamer
Weise so gepreßt, daß es hineinpaßt, der juristischen Vorstellung
wird zugemuthet, sich dasselbe in einer andern Gestalt zu denken,
als die es an sich trägt, die wirkliche Erweiterung des Rechts-
satzes wird verdeckt, verschleiert. In den obigen Fällen
geschieht nichts dem Aehnliches. Anstatt die rechtliche Stellung,
die das arrogirte Kind, die Juden einnehmen sollen, im Ein-
zelnen genauer anzugeben, wird einfach auf die des natürlichen
Kindes, der Christen Bezug genommen, es ist eine abgekürzte
Form der Fassung der anzuwendenden Rechtsgrundsätze, eine
Verweisung, aber nichts weniger als eine Fiction. Solche
Verweisungen wiederholen sich überall und zu jeder Zeit sowohl
in den Gesetzen als den Rechtsgeschäften der Privaten,421) nicht

420) Demelius in seiner Note 413 citirten Schrift zieht diesen und alle
ähnliche Fälle mit unter den Begriff der Fiction, wodurch derselbe nur ver-
dunkelt werden kann.
421) Mit demselben Recht, mit dem Demelius Wendungen wie: decem
viri eodem jure sint, quo qui optima lege (Cic. de leg. agr. II. 11)
und
die alte Curialformel: siremps lex res jus causaque omnibus omnium
rerum esto (Val. Prob. de not. §. 3)
u. a. m. hierher zieht, könnte man
Jhering, Geist d. röm. Rechts. III. 19
Die künſtlichen Mittel. §. 58.

Völlig verſchieden von den Fictionen, die ich im Bisherigen
im Auge gehabt habe, und die ich als hiſtoriſche bezeichnen
möchte, ſind zwei andere Verhältniſſe, auf die ebenfalls der Name
angewandt worden iſt. War es eine Fiction, wenn die lex de
arrogatione
dem arrogirten Kinde die Stellung des natürlichen
anwies? Sicherlich nicht,420) es war zwar eine Gleichſtellung,
aber nicht jede Gleichſtellung iſt eine Fiction. Oder wäre es
eine Fiction, wenn ein heutiges Geſetz die Juden den Chriſten
gleichſtellt? Allerdings enthält auch die Fiction eine Gleichſtel-
lung — man denke an das Beiſpiel des bonorum emptor und
bonorum possessor (S. 286) — aber das Charakteriſtiſche iſt
die Form, in der ſie dieſelbe vermittelt, und der Zweck, deſſent-
wegen ſie dies thut. Anſtatt den Rechtsſatz ſo zu erweitern, daß
das Verhältniß, auf das er ausgedehnt werden ſoll, darunter
Platz findet, wird umgekehrt das Verhältniß in gewaltſamer
Weiſe ſo gepreßt, daß es hineinpaßt, der juriſtiſchen Vorſtellung
wird zugemuthet, ſich daſſelbe in einer andern Geſtalt zu denken,
als die es an ſich trägt, die wirkliche Erweiterung des Rechts-
ſatzes wird verdeckt, verſchleiert. In den obigen Fällen
geſchieht nichts dem Aehnliches. Anſtatt die rechtliche Stellung,
die das arrogirte Kind, die Juden einnehmen ſollen, im Ein-
zelnen genauer anzugeben, wird einfach auf die des natürlichen
Kindes, der Chriſten Bezug genommen, es iſt eine abgekürzte
Form der Faſſung der anzuwendenden Rechtsgrundſätze, eine
Verweiſung, aber nichts weniger als eine Fiction. Solche
Verweiſungen wiederholen ſich überall und zu jeder Zeit ſowohl
in den Geſetzen als den Rechtsgeſchäften der Privaten,421) nicht

420) Demelius in ſeiner Note 413 citirten Schrift zieht dieſen und alle
ähnliche Fälle mit unter den Begriff der Fiction, wodurch derſelbe nur ver-
dunkelt werden kann.
421) Mit demſelben Recht, mit dem Demelius Wendungen wie: decem
viri eodem jure sint, quo qui optima lege (Cic. de leg. agr. II. 11)
und
die alte Curialformel: siremps lex res jus causaque omnibus omnium
rerum esto (Val. Prob. de not. §. 3)
u. a. m. hierher zieht, könnte man
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 19
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[289/0305] Die künſtlichen Mittel. §. 58. Völlig verſchieden von den Fictionen, die ich im Bisherigen im Auge gehabt habe, und die ich als hiſtoriſche bezeichnen möchte, ſind zwei andere Verhältniſſe, auf die ebenfalls der Name angewandt worden iſt. War es eine Fiction, wenn die lex de arrogatione dem arrogirten Kinde die Stellung des natürlichen anwies? Sicherlich nicht, 420) es war zwar eine Gleichſtellung, aber nicht jede Gleichſtellung iſt eine Fiction. Oder wäre es eine Fiction, wenn ein heutiges Geſetz die Juden den Chriſten gleichſtellt? Allerdings enthält auch die Fiction eine Gleichſtel- lung — man denke an das Beiſpiel des bonorum emptor und bonorum possessor (S. 286) — aber das Charakteriſtiſche iſt die Form, in der ſie dieſelbe vermittelt, und der Zweck, deſſent- wegen ſie dies thut. Anſtatt den Rechtsſatz ſo zu erweitern, daß das Verhältniß, auf das er ausgedehnt werden ſoll, darunter Platz findet, wird umgekehrt das Verhältniß in gewaltſamer Weiſe ſo gepreßt, daß es hineinpaßt, der juriſtiſchen Vorſtellung wird zugemuthet, ſich daſſelbe in einer andern Geſtalt zu denken, als die es an ſich trägt, die wirkliche Erweiterung des Rechts- ſatzes wird verdeckt, verſchleiert. In den obigen Fällen geſchieht nichts dem Aehnliches. Anſtatt die rechtliche Stellung, die das arrogirte Kind, die Juden einnehmen ſollen, im Ein- zelnen genauer anzugeben, wird einfach auf die des natürlichen Kindes, der Chriſten Bezug genommen, es iſt eine abgekürzte Form der Faſſung der anzuwendenden Rechtsgrundſätze, eine Verweiſung, aber nichts weniger als eine Fiction. Solche Verweiſungen wiederholen ſich überall und zu jeder Zeit ſowohl in den Geſetzen als den Rechtsgeſchäften der Privaten, 421) nicht 420) Demelius in ſeiner Note 413 citirten Schrift zieht dieſen und alle ähnliche Fälle mit unter den Begriff der Fiction, wodurch derſelbe nur ver- dunkelt werden kann. 421) Mit demſelben Recht, mit dem Demelius Wendungen wie: decem viri eodem jure sint, quo qui optima lege (Cic. de leg. agr. II. 11) und die alte Curialformel: siremps lex res jus causaque omnibus omnium rerum esto (Val. Prob. de not. §. 3) u. a. m. hierher zieht, könnte man Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 19

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/305>, abgerufen am 23.11.2024.