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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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C. Die abstracte Analyse. Vereinfachung des Thatbestandes. §. 55.
clausel verworfen, und die erste Lebensäußerung des leichtfertig
angetasteten Gesetzes bestand in der Strafe, mit der es das At-
tentat auf sein Bestehen an dem Schuldigen rächte. So war es
also nichts weniger als ein gefahrloses Unternehmen, an den
bestehenden Gesetzen und Einrichtungen zu rütteln; wenigstens
wer seiner Sache nicht völlig sicher war -- und die Sicherheit
war nicht bloß durch die Stimmung des Volks, sondern auch
durch die der zur Intercession berechtigten Beamten oder der
die Auspicien in der Gewalt habenden Augurn, durch zufällige
Störungen u. s. w. bedingt --, kurz wer nicht auf alle die vie-
len Voraussetzungen zählen konnte, von deren Eintritt die defi-
nitive Annahme seines Gesetzentwurfes abhing, der spielte ein
gewagtes Spiel, ein Spiel, das ihn möglicherweise um Leib
und Leben und sein ganzes Vermögen bringen konnte. Es war
die Ministerverantwortlichkeit des römischen Alterthums,309) der
Schutz gegen Verfassungsveränderungen. Daß die Aufhebung
der Gesetze, wenn die Zeit dazu gekommen war, nicht ausge-
schlossen war, bedarf nicht der Bemerkung.310) Eine andere
Clausel zu demselben Zweck war die, daß der Antrag nur inso-
weit gestellt sein solle, als dies gesetzlich erlaubt sei -- eine
Clausel, die Sinn hatte, wo es zweifelhaft, nicht aber, wo es
klar war, daß der Antrag gegen die Strafsanction eines früheren
Gesetzes verstieß.311)

309) Bekanntlich konnten die Gesetzvorschläge nur von den Innehabern
der höchsten Staatsämter gestellt werden. Mit der römischen Ministerver-
antwortlichkeit hatte es übrigens etwas mehr auf sich, als mit der heutigen;
um den obigen Preis könnten wir uns das römische System schon gefallen
lassen, Kopf und Vermögen wiegt den Meisten schwerer, als das Gewissen.
310) Cicero l. c. Sed vides nunquam esse observatas sanctiones
earum legum, quae abrogarentur
(ist wohl zu emendiren: abrogari
vetentur?
).
311) Nach Cicero a. a. O. wäre sie zuerst in dem von ihm berichteten
Gesetzentwurf vorgekommen; er widerlegt sich jedoch selber in pro Caecina
c. 33: adscripsisse Sullam in eandem legem: si quid jus non
esset
rogari, ejus ea lege nihilum rogatum.
An der a. Stelle theilt er
Jhering, Geist d. röm. Rechts. III. 15

C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55.
clauſel verworfen, und die erſte Lebensäußerung des leichtfertig
angetaſteten Geſetzes beſtand in der Strafe, mit der es das At-
tentat auf ſein Beſtehen an dem Schuldigen rächte. So war es
alſo nichts weniger als ein gefahrloſes Unternehmen, an den
beſtehenden Geſetzen und Einrichtungen zu rütteln; wenigſtens
wer ſeiner Sache nicht völlig ſicher war — und die Sicherheit
war nicht bloß durch die Stimmung des Volks, ſondern auch
durch die der zur Interceſſion berechtigten Beamten oder der
die Auſpicien in der Gewalt habenden Augurn, durch zufällige
Störungen u. ſ. w. bedingt —, kurz wer nicht auf alle die vie-
len Vorausſetzungen zählen konnte, von deren Eintritt die defi-
nitive Annahme ſeines Geſetzentwurfes abhing, der ſpielte ein
gewagtes Spiel, ein Spiel, das ihn möglicherweiſe um Leib
und Leben und ſein ganzes Vermögen bringen konnte. Es war
die Miniſterverantwortlichkeit des römiſchen Alterthums,309) der
Schutz gegen Verfaſſungsveränderungen. Daß die Aufhebung
der Geſetze, wenn die Zeit dazu gekommen war, nicht ausge-
ſchloſſen war, bedarf nicht der Bemerkung.310) Eine andere
Clauſel zu demſelben Zweck war die, daß der Antrag nur inſo-
weit geſtellt ſein ſolle, als dies geſetzlich erlaubt ſei — eine
Clauſel, die Sinn hatte, wo es zweifelhaft, nicht aber, wo es
klar war, daß der Antrag gegen die Strafſanction eines früheren
Geſetzes verſtieß.311)

309) Bekanntlich konnten die Geſetzvorſchläge nur von den Innehabern
der höchſten Staatsämter geſtellt werden. Mit der römiſchen Miniſterver-
antwortlichkeit hatte es übrigens etwas mehr auf ſich, als mit der heutigen;
um den obigen Preis könnten wir uns das römiſche Syſtem ſchon gefallen
laſſen, Kopf und Vermögen wiegt den Meiſten ſchwerer, als das Gewiſſen.
310) Cicero l. c. Sed vides nunquam esse observatas sanctiones
earum legum, quae abrogarentur
(iſt wohl zu emendiren: abrogari
vetentur?
).
311) Nach Cicero a. a. O. wäre ſie zuerſt in dem von ihm berichteten
Geſetzentwurf vorgekommen; er widerlegt ſich jedoch ſelber in pro Caecina
c. 33: adscripsisse Sullam in eandem legem: si quid jus non
esset
rogari, ejus ea lege nihilum rogatum.
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Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 15
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[225/0241] C. Die abſtracte Analyſe. Vereinfachung des Thatbeſtandes. §. 55. clauſel verworfen, und die erſte Lebensäußerung des leichtfertig angetaſteten Geſetzes beſtand in der Strafe, mit der es das At- tentat auf ſein Beſtehen an dem Schuldigen rächte. So war es alſo nichts weniger als ein gefahrloſes Unternehmen, an den beſtehenden Geſetzen und Einrichtungen zu rütteln; wenigſtens wer ſeiner Sache nicht völlig ſicher war — und die Sicherheit war nicht bloß durch die Stimmung des Volks, ſondern auch durch die der zur Interceſſion berechtigten Beamten oder der die Auſpicien in der Gewalt habenden Augurn, durch zufällige Störungen u. ſ. w. bedingt —, kurz wer nicht auf alle die vie- len Vorausſetzungen zählen konnte, von deren Eintritt die defi- nitive Annahme ſeines Geſetzentwurfes abhing, der ſpielte ein gewagtes Spiel, ein Spiel, das ihn möglicherweiſe um Leib und Leben und ſein ganzes Vermögen bringen konnte. Es war die Miniſterverantwortlichkeit des römiſchen Alterthums, 309) der Schutz gegen Verfaſſungsveränderungen. Daß die Aufhebung der Geſetze, wenn die Zeit dazu gekommen war, nicht ausge- ſchloſſen war, bedarf nicht der Bemerkung. 310) Eine andere Clauſel zu demſelben Zweck war die, daß der Antrag nur inſo- weit geſtellt ſein ſolle, als dies geſetzlich erlaubt ſei — eine Clauſel, die Sinn hatte, wo es zweifelhaft, nicht aber, wo es klar war, daß der Antrag gegen die Strafſanction eines früheren Geſetzes verſtieß. 311) 309) Bekanntlich konnten die Geſetzvorſchläge nur von den Innehabern der höchſten Staatsämter geſtellt werden. Mit der römiſchen Miniſterver- antwortlichkeit hatte es übrigens etwas mehr auf ſich, als mit der heutigen; um den obigen Preis könnten wir uns das römiſche Syſtem ſchon gefallen laſſen, Kopf und Vermögen wiegt den Meiſten ſchwerer, als das Gewiſſen. 310) Cicero l. c. Sed vides nunquam esse observatas sanctiones earum legum, quae abrogarentur (iſt wohl zu emendiren: abrogari vetentur?). 311) Nach Cicero a. a. O. wäre ſie zuerſt in dem von ihm berichteten Geſetzentwurf vorgekommen; er widerlegt ſich jedoch ſelber in pro Caecina c. 33: adscripsisse Sullam in eandem legem: si quid jus non esset rogari, ejus ea lege nihilum rogatum. An der a. Stelle theilt er Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. III. 15

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/241>, abgerufen am 23.11.2024.