Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
Dieser Zweck aber, um es offen zu bekennen, besteht darin, den Leser zu stimmen. Ich wünsche ihn von vornherein auf einen Standpunkt der Betrachtung zu versetzen, der ihn mei- ner Ansicht zugänglich macht, ihn zu veranlassen, seinen Blick von dem Einzelnen zu dem Ganzen und Großen zu erhe- ben. Dieser Blick muß ihm die Ueberzeugung gewähren, daß es sich bei der allmähligen Entfaltung des obigen Gegensatzes um ein historisches Gesetz handelt, um einen stetigen Fortschritt von der Form zur Formlosigkeit.
Erstreckt sich dies Gesetz nun auch rückwärts, m. a. W. hat dieser Fortschritt mit dem Nullpunkt begonnen, gab es eine Zeit, wo die Geschäfte der dritten Columne noch gar nicht exi- stirten? Wer könnte eine solche Frage unterdrücken? Ich mei- nerseits nehme nun, wie bereits bemerkt, keinen Anstand diese Frage zu bejahen. Der Nachweis dieser Behauptung mit seinen ins reichste Detail eingehenden Untersuchungen würde jedoch aus dem Rahmen der gegenwärtigen Darstellung zu weit hin- austreten und den ganzen Zusammenhang unterbrechen, und habe ich aus dem Grunde denselben an eine Stelle verlegt, an der er durch derartige Rücksichten nicht beeinträchtigt wird (Abth. IV: angebliche freiere Bildungen des ältern Rechts). Die Aussetzung dieses Punktes hat auf die folgende Darstellung keinen weitern Einfluß.
Es würde mir jetzt zunächst obliegen, die sämmtlichen for- mellen Geschäfte des ältern Rechts im Einzelnen dem Leser vor- zuführen. Wenn ich dies nicht thue, mich vielmehr auf eine flüchtige Uebersicht derselben beschränke und nur drei von ihnen zur nähern Betrachtung verstelle, so geschieht es theils, weil diese Seite unseres Gegenstandes zu den bekanntesten Dingen gehört und in jedem Compendium der Rechtsgeschichte und In- stitutionen zu finden ist, theils aber, um für eine andere Seite desselben, der sich ein Gleiches nicht nachrühmen läßt, um so mehr Raum zu gewinnen. Ueber dem Concreten, der Aeußer- lichkeit der einzelnen Formen, hat unsere "positive" Rechts-
Haften an der Aeußerlichkeit. III. Der Formalismus. §. 46.
Dieſer Zweck aber, um es offen zu bekennen, beſteht darin, den Leſer zu ſtimmen. Ich wünſche ihn von vornherein auf einen Standpunkt der Betrachtung zu verſetzen, der ihn mei- ner Anſicht zugänglich macht, ihn zu veranlaſſen, ſeinen Blick von dem Einzelnen zu dem Ganzen und Großen zu erhe- ben. Dieſer Blick muß ihm die Ueberzeugung gewähren, daß es ſich bei der allmähligen Entfaltung des obigen Gegenſatzes um ein hiſtoriſches Geſetz handelt, um einen ſtetigen Fortſchritt von der Form zur Formloſigkeit.
Erſtreckt ſich dies Geſetz nun auch rückwärts, m. a. W. hat dieſer Fortſchritt mit dem Nullpunkt begonnen, gab es eine Zeit, wo die Geſchäfte der dritten Columne noch gar nicht exi- ſtirten? Wer könnte eine ſolche Frage unterdrücken? Ich mei- nerſeits nehme nun, wie bereits bemerkt, keinen Anſtand dieſe Frage zu bejahen. Der Nachweis dieſer Behauptung mit ſeinen ins reichſte Detail eingehenden Unterſuchungen würde jedoch aus dem Rahmen der gegenwärtigen Darſtellung zu weit hin- austreten und den ganzen Zuſammenhang unterbrechen, und habe ich aus dem Grunde denſelben an eine Stelle verlegt, an der er durch derartige Rückſichten nicht beeinträchtigt wird (Abth. IV: angebliche freiere Bildungen des ältern Rechts). Die Ausſetzung dieſes Punktes hat auf die folgende Darſtellung keinen weitern Einfluß.
Es würde mir jetzt zunächſt obliegen, die ſämmtlichen for- mellen Geſchäfte des ältern Rechts im Einzelnen dem Leſer vor- zuführen. Wenn ich dies nicht thue, mich vielmehr auf eine flüchtige Ueberſicht derſelben beſchränke und nur drei von ihnen zur nähern Betrachtung verſtelle, ſo geſchieht es theils, weil dieſe Seite unſeres Gegenſtandes zu den bekannteſten Dingen gehört und in jedem Compendium der Rechtsgeſchichte und In- ſtitutionen zu finden iſt, theils aber, um für eine andere Seite deſſelben, der ſich ein Gleiches nicht nachrühmen läßt, um ſo mehr Raum zu gewinnen. Ueber dem Concreten, der Aeußer- lichkeit der einzelnen Formen, hat unſere „poſitive“ Rechts-
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Dieſer Zweck aber, um es offen zu bekennen, beſteht darin,
den Leſer zu ſtimmen. Ich wünſche ihn von vornherein auf
einen Standpunkt der Betrachtung zu verſetzen, der ihn mei-
ner Anſicht zugänglich macht, ihn zu veranlaſſen, ſeinen
Blick von dem Einzelnen zu dem Ganzen und Großen zu erhe-
ben. Dieſer Blick muß ihm die Ueberzeugung gewähren, daß es
ſich bei der allmähligen Entfaltung des obigen Gegenſatzes um
ein hiſtoriſches Geſetz handelt, um einen ſtetigen Fortſchritt von
der Form zur Formloſigkeit.
Erſtreckt ſich dies Geſetz nun auch rückwärts, m. a. W.
hat dieſer Fortſchritt mit dem Nullpunkt begonnen, gab es eine
Zeit, wo die Geſchäfte der dritten Columne noch gar nicht exi-
ſtirten? Wer könnte eine ſolche Frage unterdrücken? Ich mei-
nerſeits nehme nun, wie bereits bemerkt, keinen Anſtand dieſe
Frage zu bejahen. Der Nachweis dieſer Behauptung mit ſeinen
ins reichſte Detail eingehenden Unterſuchungen würde jedoch
aus dem Rahmen der gegenwärtigen Darſtellung zu weit hin-
austreten und den ganzen Zuſammenhang unterbrechen, und
habe ich aus dem Grunde denſelben an eine Stelle verlegt,
an der er durch derartige Rückſichten nicht beeinträchtigt wird
(Abth. IV: angebliche freiere Bildungen des ältern Rechts).
Die Ausſetzung dieſes Punktes hat auf die folgende Darſtellung
keinen weitern Einfluß.
Es würde mir jetzt zunächſt obliegen, die ſämmtlichen for-
mellen Geſchäfte des ältern Rechts im Einzelnen dem Leſer vor-
zuführen. Wenn ich dies nicht thue, mich vielmehr auf eine
flüchtige Ueberſicht derſelben beſchränke und nur drei von ihnen
zur nähern Betrachtung verſtelle, ſo geſchieht es theils, weil
dieſe Seite unſeres Gegenſtandes zu den bekannteſten Dingen
gehört und in jedem Compendium der Rechtsgeſchichte und In-
ſtitutionen zu finden iſt, theils aber, um für eine andere Seite
deſſelben, der ſich ein Gleiches nicht nachrühmen läßt, um ſo
mehr Raum zu gewinnen. Ueber dem Concreten, der Aeußer-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 551. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/257>, abgerufen am 24.11.2024.
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