Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. Ob es z. B. in der Klagformel hieß: est oder erit, war fürdie richterliche Aestimation vom größten Einfluß und ebenso bei der Einsetzung mehrer Erben oder dem Vermächtniß an mehre Legatare, wie sie aufgezählt, ob sie z. B. durch et verbunden oder einzeln neben einander genannt waren, oder ob zwei Lega- taren zusammen das Ganze oder jedem einzelnen die Hälfte ver- macht war. Wer den Sinn und Einfluß dieser Worte nicht kannte, sich derselben vielmehr in naiver Weise ebenso bediente, wie er es im Leben gewohnt war, also z. B. meinte, daß zwei Hälften, um es einmal paradox auszudrücken, gleich seien dem Ganzen, und daß es auf ein et mehr oder weniger nicht an- komme, konnte sich und Andere dadurch ohne sein Wissen im höchsten Grad benachtheiligen; jenes Wörtchen et konnte für einen der Erben ein Drittel der Erbschaft bedeuten. Für den Verkehr begründete diese Strenge der Interpreta- 620) Der Begriff der Umgehung (fraus) wird zwar gewöhnlich nur auf
die Gesetze bezogen und in den Quellen definirt als Beachtung der Worte und Uebertretung des wirklichen Willens des Gesetzes z. B. L. 29, 30 de leg. (1. 3) .. in fraudem, qui salvis verbis legis sententiam ejus cir- cumvenit L. 5 Cod. de leg. (1. 14) verba legis amplexus contra legis nititur voluntatem, allein es bedarf keiner Bemerkung, daß die Statthaftig- keit der Umgehung als unvermeidliche Folge der Wortinterpretation dieselbe Ausdehnung hatte, wie letztere, also auch bei Rechtsgeschäften Platz griff. Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44. Ob es z. B. in der Klagformel hieß: est oder erit, war fürdie richterliche Aeſtimation vom größten Einfluß und ebenſo bei der Einſetzung mehrer Erben oder dem Vermächtniß an mehre Legatare, wie ſie aufgezählt, ob ſie z. B. durch et verbunden oder einzeln neben einander genannt waren, oder ob zwei Lega- taren zuſammen das Ganze oder jedem einzelnen die Hälfte ver- macht war. Wer den Sinn und Einfluß dieſer Worte nicht kannte, ſich derſelben vielmehr in naiver Weiſe ebenſo bediente, wie er es im Leben gewohnt war, alſo z. B. meinte, daß zwei Hälften, um es einmal paradox auszudrücken, gleich ſeien dem Ganzen, und daß es auf ein et mehr oder weniger nicht an- komme, konnte ſich und Andere dadurch ohne ſein Wiſſen im höchſten Grad benachtheiligen; jenes Wörtchen et konnte für einen der Erben ein Drittel der Erbſchaft bedeuten. Für den Verkehr begründete dieſe Strenge der Interpreta- 620) Der Begriff der Umgehung (fraus) wird zwar gewöhnlich nur auf
die Geſetze bezogen und in den Quellen definirt als Beachtung der Worte und Uebertretung des wirklichen Willens des Geſetzes z. B. L. 29, 30 de leg. (1. 3) .. in fraudem, qui salvis verbis legis sententiam ejus cir- cumvenit L. 5 Cod. de leg. (1. 14) verba legis amplexus contra legis nititur voluntatem, allein es bedarf keiner Bemerkung, daß die Statthaftig- keit der Umgehung als unvermeidliche Folge der Wortinterpretation dieſelbe Ausdehnung hatte, wie letztere, alſo auch bei Rechtsgeſchäften Platz griff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0185" n="479"/><fw place="top" type="header">Haften an der Aeußerlichkeit. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Wortinterpretation. §. 44.</fw><lb/> Ob es z. B. in der Klagformel hieß: <hi rendition="#aq">est</hi> oder <hi rendition="#aq">erit,</hi> war für<lb/> die richterliche Aeſtimation vom größten Einfluß und ebenſo bei<lb/> der Einſetzung mehrer Erben oder dem Vermächtniß an mehre<lb/> Legatare, wie ſie aufgezählt, ob ſie z. B. durch <hi rendition="#aq">et</hi> verbunden<lb/> oder einzeln neben einander genannt waren, oder ob zwei Lega-<lb/> taren zuſammen das Ganze oder jedem einzelnen die Hälfte ver-<lb/> macht war. Wer den Sinn und Einfluß dieſer Worte nicht<lb/> kannte, ſich derſelben vielmehr in naiver Weiſe ebenſo bediente,<lb/> wie er es im Leben gewohnt war, alſo z. B. meinte, daß zwei<lb/> Hälften, um es einmal paradox auszudrücken, gleich ſeien dem<lb/> Ganzen, und daß es auf ein <hi rendition="#aq">et</hi> mehr oder weniger nicht an-<lb/> komme, konnte ſich und Andere dadurch ohne ſein Wiſſen im<lb/> höchſten Grad benachtheiligen; jenes Wörtchen <hi rendition="#aq">et</hi> konnte für<lb/> einen der Erben ein Drittel der Erbſchaft bedeuten.</p><lb/> <p>Für den Verkehr begründete dieſe Strenge der Interpreta-<lb/> tion die Möglichkeit und die Gefahr arger Uebervortheilungen.<lb/> Wer es verſtand, einer Vertragsberedung, über deren Sinn er<lb/> mit der Gegenpartei völlig einverſtanden war, bei der ſchrift-<lb/> lichen oder mündlichen Formulirung, je nachdem ſein Intereſſe<lb/> es erforderte, einen zu engen oder zu weiten Ausdruck zu geben,<lb/> der hatte gewonnenes Spiel, ſelbſt wenn er hätte einräumen<lb/> wollen, daß die beiderſeitige Abſicht auf etwas anderes gerichtet<lb/> geweſen, als die Worte ausſagten. Ebenſo ſtand es ihm frei,<lb/> das Recht des Gegners durch <hi rendition="#g">Umgehung</hi> des Vertrages<lb/> d. h. durch eine Handlungsweiſe, die den Worten entſprach,<lb/> der wirklichen Intention aber widerſtrebte, zu elidiren. <note place="foot" n="620)">Der Begriff der Umgehung <hi rendition="#aq">(fraus)</hi> wird zwar gewöhnlich nur auf<lb/> die <hi rendition="#g">Geſetze</hi> bezogen und in den Quellen definirt als Beachtung der Worte<lb/> und Uebertretung des wirklichen Willens des <hi rendition="#g">Geſetzes</hi> z. B. <hi rendition="#aq">L. 29, 30 de<lb/> leg. (1. 3) .. in fraudem, qui salvis verbis legis sententiam ejus cir-<lb/> cumvenit L. 5 Cod. de leg. (1. 14) verba legis amplexus contra legis<lb/> nititur voluntatem,</hi> allein es bedarf keiner Bemerkung, daß die Statthaftig-<lb/> keit der Umgehung als unvermeidliche Folge der Wortinterpretation dieſelbe<lb/> Ausdehnung hatte, wie letztere, alſo auch bei Rechtsgeſchäften Platz griff.</note> Die<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [479/0185]
Haften an der Aeußerlichkeit. II. Die Wortinterpretation. §. 44.
Ob es z. B. in der Klagformel hieß: est oder erit, war für
die richterliche Aeſtimation vom größten Einfluß und ebenſo bei
der Einſetzung mehrer Erben oder dem Vermächtniß an mehre
Legatare, wie ſie aufgezählt, ob ſie z. B. durch et verbunden
oder einzeln neben einander genannt waren, oder ob zwei Lega-
taren zuſammen das Ganze oder jedem einzelnen die Hälfte ver-
macht war. Wer den Sinn und Einfluß dieſer Worte nicht
kannte, ſich derſelben vielmehr in naiver Weiſe ebenſo bediente,
wie er es im Leben gewohnt war, alſo z. B. meinte, daß zwei
Hälften, um es einmal paradox auszudrücken, gleich ſeien dem
Ganzen, und daß es auf ein et mehr oder weniger nicht an-
komme, konnte ſich und Andere dadurch ohne ſein Wiſſen im
höchſten Grad benachtheiligen; jenes Wörtchen et konnte für
einen der Erben ein Drittel der Erbſchaft bedeuten.
Für den Verkehr begründete dieſe Strenge der Interpreta-
tion die Möglichkeit und die Gefahr arger Uebervortheilungen.
Wer es verſtand, einer Vertragsberedung, über deren Sinn er
mit der Gegenpartei völlig einverſtanden war, bei der ſchrift-
lichen oder mündlichen Formulirung, je nachdem ſein Intereſſe
es erforderte, einen zu engen oder zu weiten Ausdruck zu geben,
der hatte gewonnenes Spiel, ſelbſt wenn er hätte einräumen
wollen, daß die beiderſeitige Abſicht auf etwas anderes gerichtet
geweſen, als die Worte ausſagten. Ebenſo ſtand es ihm frei,
das Recht des Gegners durch Umgehung des Vertrages
d. h. durch eine Handlungsweiſe, die den Worten entſprach,
der wirklichen Intention aber widerſtrebte, zu elidiren. 620) Die
620) Der Begriff der Umgehung (fraus) wird zwar gewöhnlich nur auf
die Geſetze bezogen und in den Quellen definirt als Beachtung der Worte
und Uebertretung des wirklichen Willens des Geſetzes z. B. L. 29, 30 de
leg. (1. 3) .. in fraudem, qui salvis verbis legis sententiam ejus cir-
cumvenit L. 5 Cod. de leg. (1. 14) verba legis amplexus contra legis
nititur voluntatem, allein es bedarf keiner Bemerkung, daß die Statthaftig-
keit der Umgehung als unvermeidliche Folge der Wortinterpretation dieſelbe
Ausdehnung hatte, wie letztere, alſo auch bei Rechtsgeſchäften Platz griff.
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