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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Abstraction drängt, so findet doch das sinnliche Element Gele-
genheit, sich in und bei diesem Akt wieder einzudrängen. Der
Geist abstrahirt -- gewiß! aber die Sinnlichkeit ist das
Prisma, durch das er die Dinge betrachtet. Er gewinnt
Rechtssätze -- aber der Zuschnitt derselben ist ein substan-
tieller; nur die gröberen, derberen, äußerlich in die Sinne
fallenden Momente des Verhältnisses sind in ihnen berücksich-
tigt, alle feineren übersehen. So vergegenwärtigt uns diese
Erscheinung, für die ich den Namen Materialismus wähle,
gewissermaßen das Ringen der Abstraction mit der sinnlichen
Anschauungsweise.

Zwischen Materialismus und Formalismus schiebe ich noch
eine andere Erscheinung ein (§. 44), die gleichfalls unter den
ihnen beiden gemeinsamen Gesichtspunkt des Haftens an der
Aeußerlichkeit fällt, auf die ich hier aber nicht weiter eingehe,
das Haften am Wort oder die Wortinterpretation der
älteren Jurisprudenz. Wir wenden uns zunächst dem Materia-
lismus zu.

Die materialistische Auffassungsweise im Recht äußert sich
darin, daß sie sich bei ihren Abstractionen an das in die Augen
Fallende hält, ihre Rechtssätze, Begriffe, Unterschiede nach
äußerlichen Momenten zuschneidet, die idealeren Beziehungen,
Seiten und Unterschiede ignorirt. Die Gesetze und Begriffe
einer rohen Zeit sind, wie die Menschen selbst, handfeste, un-
geschlachte Gesellen, die nur fassen und fangen, was sie mit der
ganzen Faust packen können. Anstatt uns bei einer allgemei-
nen Charakteristik des Materialismus aufzuhalten, wollen wir
ihn lieber in seiner concreten Gestalt, die er im ältern Recht
gewonnen hat, vorführen; die Beispiele sprechen für sich selbst,
namentlich wenn man ihnen, wie dies geschehen soll, die ab-
weichende, mehr innerliche, spiritualistische Gestaltung im heu-
tigen oder neuern römischen Recht gegenüber stellt.

Ich beginne mit zwei Delicten des ältern Rechts. Unser
heutiges Recht straft den Diebstahl von Staatswegen, das äl-

Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 29

Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43.
Abſtraction drängt, ſo findet doch das ſinnliche Element Gele-
genheit, ſich in und bei dieſem Akt wieder einzudrängen. Der
Geiſt abſtrahirt — gewiß! aber die Sinnlichkeit iſt das
Prisma, durch das er die Dinge betrachtet. Er gewinnt
Rechtsſätze — aber der Zuſchnitt derſelben iſt ein ſubſtan-
tieller; nur die gröberen, derberen, äußerlich in die Sinne
fallenden Momente des Verhältniſſes ſind in ihnen berückſich-
tigt, alle feineren überſehen. So vergegenwärtigt uns dieſe
Erſcheinung, für die ich den Namen Materialismus wähle,
gewiſſermaßen das Ringen der Abſtraction mit der ſinnlichen
Anſchauungsweiſe.

Zwiſchen Materialismus und Formalismus ſchiebe ich noch
eine andere Erſcheinung ein (§. 44), die gleichfalls unter den
ihnen beiden gemeinſamen Geſichtspunkt des Haftens an der
Aeußerlichkeit fällt, auf die ich hier aber nicht weiter eingehe,
das Haften am Wort oder die Wortinterpretation der
älteren Jurisprudenz. Wir wenden uns zunächſt dem Materia-
lismus zu.

Die materialiſtiſche Auffaſſungsweiſe im Recht äußert ſich
darin, daß ſie ſich bei ihren Abſtractionen an das in die Augen
Fallende hält, ihre Rechtsſätze, Begriffe, Unterſchiede nach
äußerlichen Momenten zuſchneidet, die idealeren Beziehungen,
Seiten und Unterſchiede ignorirt. Die Geſetze und Begriffe
einer rohen Zeit ſind, wie die Menſchen ſelbſt, handfeſte, un-
geſchlachte Geſellen, die nur faſſen und fangen, was ſie mit der
ganzen Fauſt packen können. Anſtatt uns bei einer allgemei-
nen Charakteriſtik des Materialismus aufzuhalten, wollen wir
ihn lieber in ſeiner concreten Geſtalt, die er im ältern Recht
gewonnen hat, vorführen; die Beiſpiele ſprechen für ſich ſelbſt,
namentlich wenn man ihnen, wie dies geſchehen ſoll, die ab-
weichende, mehr innerliche, ſpiritualiſtiſche Geſtaltung im heu-
tigen oder neuern römiſchen Recht gegenüber ſtellt.

Ich beginne mit zwei Delicten des ältern Rechts. Unſer
heutiges Recht ſtraft den Diebſtahl von Staatswegen, das äl-

Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 29
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[449/0155] Haften an der Aeußerlichkeit. I. Der Materialismus. §. 43. Abſtraction drängt, ſo findet doch das ſinnliche Element Gele- genheit, ſich in und bei dieſem Akt wieder einzudrängen. Der Geiſt abſtrahirt — gewiß! aber die Sinnlichkeit iſt das Prisma, durch das er die Dinge betrachtet. Er gewinnt Rechtsſätze — aber der Zuſchnitt derſelben iſt ein ſubſtan- tieller; nur die gröberen, derberen, äußerlich in die Sinne fallenden Momente des Verhältniſſes ſind in ihnen berückſich- tigt, alle feineren überſehen. So vergegenwärtigt uns dieſe Erſcheinung, für die ich den Namen Materialismus wähle, gewiſſermaßen das Ringen der Abſtraction mit der ſinnlichen Anſchauungsweiſe. Zwiſchen Materialismus und Formalismus ſchiebe ich noch eine andere Erſcheinung ein (§. 44), die gleichfalls unter den ihnen beiden gemeinſamen Geſichtspunkt des Haftens an der Aeußerlichkeit fällt, auf die ich hier aber nicht weiter eingehe, das Haften am Wort oder die Wortinterpretation der älteren Jurisprudenz. Wir wenden uns zunächſt dem Materia- lismus zu. Die materialiſtiſche Auffaſſungsweiſe im Recht äußert ſich darin, daß ſie ſich bei ihren Abſtractionen an das in die Augen Fallende hält, ihre Rechtsſätze, Begriffe, Unterſchiede nach äußerlichen Momenten zuſchneidet, die idealeren Beziehungen, Seiten und Unterſchiede ignorirt. Die Geſetze und Begriffe einer rohen Zeit ſind, wie die Menſchen ſelbſt, handfeſte, un- geſchlachte Geſellen, die nur faſſen und fangen, was ſie mit der ganzen Fauſt packen können. Anſtatt uns bei einer allgemei- nen Charakteriſtik des Materialismus aufzuhalten, wollen wir ihn lieber in ſeiner concreten Geſtalt, die er im ältern Recht gewonnen hat, vorführen; die Beiſpiele ſprechen für ſich ſelbſt, namentlich wenn man ihnen, wie dies geſchehen ſoll, die ab- weichende, mehr innerliche, ſpiritualiſtiſche Geſtaltung im heu- tigen oder neuern römiſchen Recht gegenüber ſtellt. Ich beginne mit zwei Delicten des ältern Rechts. Unſer heutiges Recht ſtraft den Diebſtahl von Staatswegen, das äl- Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 29

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/155>, abgerufen am 22.11.2024.