Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. B. Des ält. Rechts.
Wesen des Rechts dem sinnlichen Element so wenig Wider- stand, daß sich letzteres hier umgekehrt mit großem Nutzen ver- werthen läßt. Von dieser Erscheinung, die ich als Forma- lismus bezeichne, wird §. 45 u. fl. die Rede sein.
Anders freilich auf der innern Seite des Rechts, der auf dem Gebiet der Religion das Dogma entspricht. Hier handelt es sich nämlich um ein Innerliches und Allgemeines, nennen wir es nun den Rechtssatz oder den Begriff. In und aus den Verhältnissen des Lebens soll hier die Rechtsidee erkannt und zur Allgemeinheit des Ausdrucks gebracht, es soll von allem, was die concrete Anschauung besticht und bestimmt, der äußeren Verschiedenheit der Personen, Gegenstände, Verhältnisse, Lagen, Umstände abstrahirt und der reine abstracte Kern gewonnen wer- den. Ein Beharren in der sinnlichen Vorstellungsweise würde hier ja, wie es scheint, mit Nichtlösung der Aufgabe gleichbedeutend sein. Und in der That setzt das Recht hier jener Vorstellungs- weise einen ungleich stärkeren Widerstand entgegen, als die Religion. Denn die religiösen Ideen und Abstractionen neh- men willig concrete Gestalt an, die Abstraction der Kraft, in der dem Menschen zuerst die Ahnung des Göttlichen aufgeht, versinnlicht sich zu einem Gott, aber welche concrete Gestalt fände sich für die rechtlichen Abstractionen? Die Rechtsbegriffe und Rechtssätze bleiben, was sie sind; denn die concrete oder selbst poetische Form ihres Ausdrucks betrifft eben nur die Fassung, nicht ihre innere Beschaffenheit und Substanz. Dar- um, glaube ich, ist es nicht gewagt zu behaupten, daß das Recht das Gebiet ist, auf dem der menschliche Geist mit Noth- wendigkeit sich zuerst zur wahren Abstraction hat aufschwingen müssen; das erste Gesetz, mochte es betreffen, was es wollte, war der erste Ansatz des Geistes zur bewußten All- gemeinheit des Denkens, die erste Veranlassung und der erste Versuch, sich über das allgemeine geistige Niveau der Zeit zu erheben.
Allein so sehr nun auch einerseits das Recht gebieterisch zur
Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Weſen des Rechts dem ſinnlichen Element ſo wenig Wider- ſtand, daß ſich letzteres hier umgekehrt mit großem Nutzen ver- werthen läßt. Von dieſer Erſcheinung, die ich als Forma- lismus bezeichne, wird §. 45 u. fl. die Rede ſein.
Anders freilich auf der innern Seite des Rechts, der auf dem Gebiet der Religion das Dogma entſpricht. Hier handelt es ſich nämlich um ein Innerliches und Allgemeines, nennen wir es nun den Rechtsſatz oder den Begriff. In und aus den Verhältniſſen des Lebens ſoll hier die Rechtsidee erkannt und zur Allgemeinheit des Ausdrucks gebracht, es ſoll von allem, was die concrete Anſchauung beſticht und beſtimmt, der äußeren Verſchiedenheit der Perſonen, Gegenſtände, Verhältniſſe, Lagen, Umſtände abſtrahirt und der reine abſtracte Kern gewonnen wer- den. Ein Beharren in der ſinnlichen Vorſtellungsweiſe würde hier ja, wie es ſcheint, mit Nichtlöſung der Aufgabe gleichbedeutend ſein. Und in der That ſetzt das Recht hier jener Vorſtellungs- weiſe einen ungleich ſtärkeren Widerſtand entgegen, als die Religion. Denn die religiöſen Ideen und Abſtractionen neh- men willig concrete Geſtalt an, die Abſtraction der Kraft, in der dem Menſchen zuerſt die Ahnung des Göttlichen aufgeht, verſinnlicht ſich zu einem Gott, aber welche concrete Geſtalt fände ſich für die rechtlichen Abſtractionen? Die Rechtsbegriffe und Rechtsſätze bleiben, was ſie ſind; denn die concrete oder ſelbſt poetiſche Form ihres Ausdrucks betrifft eben nur die Faſſung, nicht ihre innere Beſchaffenheit und Subſtanz. Dar- um, glaube ich, iſt es nicht gewagt zu behaupten, daß das Recht das Gebiet iſt, auf dem der menſchliche Geiſt mit Noth- wendigkeit ſich zuerſt zur wahren Abſtraction hat aufſchwingen müſſen; das erſte Geſetz, mochte es betreffen, was es wollte, war der erſte Anſatz des Geiſtes zur bewußten All- gemeinheit des Denkens, die erſte Veranlaſſung und der erſte Verſuch, ſich über das allgemeine geiſtige Niveau der Zeit zu erheben.
Allein ſo ſehr nun auch einerſeits das Recht gebieteriſch zur
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Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. B. Des ält. Rechts.
Weſen des Rechts dem ſinnlichen Element ſo wenig Wider-
ſtand, daß ſich letzteres hier umgekehrt mit großem Nutzen ver-
werthen läßt. Von dieſer Erſcheinung, die ich als Forma-
lismus bezeichne, wird §. 45 u. fl. die Rede ſein.
Anders freilich auf der innern Seite des Rechts, der auf
dem Gebiet der Religion das Dogma entſpricht. Hier handelt
es ſich nämlich um ein Innerliches und Allgemeines, nennen
wir es nun den Rechtsſatz oder den Begriff. In und aus den
Verhältniſſen des Lebens ſoll hier die Rechtsidee erkannt und
zur Allgemeinheit des Ausdrucks gebracht, es ſoll von allem,
was die concrete Anſchauung beſticht und beſtimmt, der äußeren
Verſchiedenheit der Perſonen, Gegenſtände, Verhältniſſe, Lagen,
Umſtände abſtrahirt und der reine abſtracte Kern gewonnen wer-
den. Ein Beharren in der ſinnlichen Vorſtellungsweiſe würde hier
ja, wie es ſcheint, mit Nichtlöſung der Aufgabe gleichbedeutend
ſein. Und in der That ſetzt das Recht hier jener Vorſtellungs-
weiſe einen ungleich ſtärkeren Widerſtand entgegen, als die
Religion. Denn die religiöſen Ideen und Abſtractionen neh-
men willig concrete Geſtalt an, die Abſtraction der Kraft, in
der dem Menſchen zuerſt die Ahnung des Göttlichen aufgeht,
verſinnlicht ſich zu einem Gott, aber welche concrete Geſtalt
fände ſich für die rechtlichen Abſtractionen? Die Rechtsbegriffe
und Rechtsſätze bleiben, was ſie ſind; denn die concrete oder
ſelbſt poetiſche Form ihres Ausdrucks betrifft eben nur die
Faſſung, nicht ihre innere Beſchaffenheit und Subſtanz. Dar-
um, glaube ich, iſt es nicht gewagt zu behaupten, daß das
Recht das Gebiet iſt, auf dem der menſchliche Geiſt mit Noth-
wendigkeit ſich zuerſt zur wahren Abſtraction hat aufſchwingen
müſſen; das erſte Geſetz, mochte es betreffen, was es wollte,
war der erſte Anſatz des Geiſtes zur bewußten All-
gemeinheit des Denkens, die erſte Veranlaſſung und der
erſte Verſuch, ſich über das allgemeine geiſtige Niveau der Zeit
zu erheben.
Allein ſo ſehr nun auch einerſeits das Recht gebieteriſch zur
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/154>, abgerufen am 16.02.2025.
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