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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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3. Die juristische Construction. §. 41.
auf Existenz. Ob diese Lage eine ungewöhnliche und praktisch
völlig unwichtige ist, relevirt nichts, denn es handelt sich bei der
ganzen Aufgabe nicht um ein praktisches, sondern um ein logi-
sches Problem.516) Die Probe der Construction besteht
darin, daß die Wissenschaft ihren Körper durch alle erdenkliche
Lagen hindurchführt, ihn in jede mögliche Verbindung mit an-
dern Körpern bringt, ihn mit jedem ihrer Lehrsätze vergleicht.
Erst wenn alles zusammenstimmt, hat er seine Probe bestanden,
ist er ächt und wahr. Als Beispiel nehmen wir die Obligation.
Fassen wir dieselbe mit den römischen Juristen einmal als Qua-
lität der beiden verbundenen Personen auf, so folgt daraus,
daß sie ohne die beiden Personen nicht existiren kann -- denn
eine ohne Subject bestehende Qualität ist ein Unding -- daß
sie mithin mit dem Tode des Gläubigers oder Schuldners unter-
gehen müßte. Wenn sie nun dennoch praktisch fortdauert, so
muß entweder jene Auffassung selbst aufgegeben werden oder
aber -- und diesen Weg haben die römischen Juristen eingeschla-
gen -- jener Widerspruch muß dadurch beseitigt werden, daß
die Person als fortdauernd gedacht wird. Ein Drittes gibt es
nicht, denn das Dritte könnte nur darin bestehen, daß man
sich bei dem bloßen Factum der Fortdauer der Obligation
beruhigte, darauf verzichtete, es mit dem Begriff der Obligation
in Einklang zu setzen. Das wäre aber ein wissenschaftlicher
Bankerott, ein Abfall von aller und jeder Jurisprudenz. Fer-
ner! Wenn die Jurisprudenz einmal den Lehrsatz aufstellt, daß

516) So behandeln die römischen Juristen z. B. beim Eigenthum die
Frage von der Fortdauer desselben an einer ins Meer gefallenen Sache, an
einem entflogenen Vogel, entronnenem Wilde, so untersuchen sie das Eigen-
thumsverhältniß an den erbschaftlichen Sachen vor Antretung der Erbschaft,
an den unter einer Bedingung legirten Sachen während der Pendenz derselben
u. s. w. So stellen sie an sich die Anforderung, da, wo ein Rechtsverhältniß
in irgend einem Zeitraum entstanden, den Zeitpunkt der Entstehung anzu-
geben und läugnen daher z. B. auch ganz consequent die Möglichkeit der Ent-
stehung überhaupt, wo kein solcher einzelner Entstehungsmoment denkbar war,
L. 9 §. 3 qui post. (20. 4).
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 26

3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41.
auf Exiſtenz. Ob dieſe Lage eine ungewöhnliche und praktiſch
völlig unwichtige iſt, relevirt nichts, denn es handelt ſich bei der
ganzen Aufgabe nicht um ein praktiſches, ſondern um ein logi-
ſches Problem.516) Die Probe der Conſtruction beſteht
darin, daß die Wiſſenſchaft ihren Körper durch alle erdenkliche
Lagen hindurchführt, ihn in jede mögliche Verbindung mit an-
dern Körpern bringt, ihn mit jedem ihrer Lehrſätze vergleicht.
Erſt wenn alles zuſammenſtimmt, hat er ſeine Probe beſtanden,
iſt er ächt und wahr. Als Beiſpiel nehmen wir die Obligation.
Faſſen wir dieſelbe mit den römiſchen Juriſten einmal als Qua-
lität der beiden verbundenen Perſonen auf, ſo folgt daraus,
daß ſie ohne die beiden Perſonen nicht exiſtiren kann — denn
eine ohne Subject beſtehende Qualität iſt ein Unding — daß
ſie mithin mit dem Tode des Gläubigers oder Schuldners unter-
gehen müßte. Wenn ſie nun dennoch praktiſch fortdauert, ſo
muß entweder jene Auffaſſung ſelbſt aufgegeben werden oder
aber — und dieſen Weg haben die römiſchen Juriſten eingeſchla-
gen — jener Widerſpruch muß dadurch beſeitigt werden, daß
die Perſon als fortdauernd gedacht wird. Ein Drittes gibt es
nicht, denn das Dritte könnte nur darin beſtehen, daß man
ſich bei dem bloßen Factum der Fortdauer der Obligation
beruhigte, darauf verzichtete, es mit dem Begriff der Obligation
in Einklang zu ſetzen. Das wäre aber ein wiſſenſchaftlicher
Bankerott, ein Abfall von aller und jeder Jurisprudenz. Fer-
ner! Wenn die Jurisprudenz einmal den Lehrſatz aufſtellt, daß

516) So behandeln die römiſchen Juriſten z. B. beim Eigenthum die
Frage von der Fortdauer deſſelben an einer ins Meer gefallenen Sache, an
einem entflogenen Vogel, entronnenem Wilde, ſo unterſuchen ſie das Eigen-
thumsverhältniß an den erbſchaftlichen Sachen vor Antretung der Erbſchaft,
an den unter einer Bedingung legirten Sachen während der Pendenz derſelben
u. ſ. w. So ſtellen ſie an ſich die Anforderung, da, wo ein Rechtsverhältniß
in irgend einem Zeitraum entſtanden, den Zeitpunkt der Entſtehung anzu-
geben und läugnen daher z. B. auch ganz conſequent die Möglichkeit der Ent-
ſtehung überhaupt, wo kein ſolcher einzelner Entſtehungsmoment denkbar war,
L. 9 §. 3 qui post. (20. 4).
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 26
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[401/0107] 3. Die juriſtiſche Conſtruction. §. 41. auf Exiſtenz. Ob dieſe Lage eine ungewöhnliche und praktiſch völlig unwichtige iſt, relevirt nichts, denn es handelt ſich bei der ganzen Aufgabe nicht um ein praktiſches, ſondern um ein logi- ſches Problem. 516) Die Probe der Conſtruction beſteht darin, daß die Wiſſenſchaft ihren Körper durch alle erdenkliche Lagen hindurchführt, ihn in jede mögliche Verbindung mit an- dern Körpern bringt, ihn mit jedem ihrer Lehrſätze vergleicht. Erſt wenn alles zuſammenſtimmt, hat er ſeine Probe beſtanden, iſt er ächt und wahr. Als Beiſpiel nehmen wir die Obligation. Faſſen wir dieſelbe mit den römiſchen Juriſten einmal als Qua- lität der beiden verbundenen Perſonen auf, ſo folgt daraus, daß ſie ohne die beiden Perſonen nicht exiſtiren kann — denn eine ohne Subject beſtehende Qualität iſt ein Unding — daß ſie mithin mit dem Tode des Gläubigers oder Schuldners unter- gehen müßte. Wenn ſie nun dennoch praktiſch fortdauert, ſo muß entweder jene Auffaſſung ſelbſt aufgegeben werden oder aber — und dieſen Weg haben die römiſchen Juriſten eingeſchla- gen — jener Widerſpruch muß dadurch beſeitigt werden, daß die Perſon als fortdauernd gedacht wird. Ein Drittes gibt es nicht, denn das Dritte könnte nur darin beſtehen, daß man ſich bei dem bloßen Factum der Fortdauer der Obligation beruhigte, darauf verzichtete, es mit dem Begriff der Obligation in Einklang zu ſetzen. Das wäre aber ein wiſſenſchaftlicher Bankerott, ein Abfall von aller und jeder Jurisprudenz. Fer- ner! Wenn die Jurisprudenz einmal den Lehrſatz aufſtellt, daß 516) So behandeln die römiſchen Juriſten z. B. beim Eigenthum die Frage von der Fortdauer deſſelben an einer ins Meer gefallenen Sache, an einem entflogenen Vogel, entronnenem Wilde, ſo unterſuchen ſie das Eigen- thumsverhältniß an den erbſchaftlichen Sachen vor Antretung der Erbſchaft, an den unter einer Bedingung legirten Sachen während der Pendenz derſelben u. ſ. w. So ſtellen ſie an ſich die Anforderung, da, wo ein Rechtsverhältniß in irgend einem Zeitraum entſtanden, den Zeitpunkt der Entſtehung anzu- geben und läugnen daher z. B. auch ganz conſequent die Möglichkeit der Ent- ſtehung überhaupt, wo kein ſolcher einzelner Entſtehungsmoment denkbar war, L. 9 §. 3 qui post. (20. 4). Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 26

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/107>, abgerufen am 22.11.2024.