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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
die Obligation durch Zahlung untergeht, so muß es als ein
juristisches Unding erscheinen, daß der Gläubiger nach erhalte-
ner Zahlung die Klage noch cediren kann. Nichts desto weniger
erkennt das Recht eine Cession des Gläubigers an den Bürgen
nach geleisteter Zahlung als möglich an. Auch hier kann die
Wissenschaft sich nicht dabei beruhigen, daß es einmal so Rech-
tens sei, sondern entweder muß sie jenen Satz fallen lassen, oder
aber, wenn sie dies nicht will oder kann, einen Gesichtspunkt
aufsuchen, der den Widerspruch beseitigt, ihn als einen bloß
scheinbaren hinstellt, und dies ist den römischen Juristen in einer
höchst ungezwungenen, überzeugenden Weise gelungen.517)

Wir können der Anforderung, um die es sich bei unserm
zweiten Gesetz hier handelt, den Ausdruck geben: die Wissen-
schaft darf keine juristische Unmöglichkeiten statuiren.
Der Begriff der juristischen Möglichkeit und Unmöglichkeit scheint
nun auf den ersten Blick ein absoluter zu sein, in der That aber
ist er ein relativer. Wie vieles würde den römischen Juristen
als juristisch unmöglich erscheinen, was heutzutage als juristisch
möglich gilt (z. B. Forderungen, die dem jedesmaligen Innehaber
eines Papiers zustehen, Indossamente in blanco u. s. w.), und
an wie manchem nehmen wiederum sie keinen Anstoß, worin die
älteren Juristen geradezu einen Verstoß gegen jede juristische
Logik erblickt haben würden!518) Wie im Recht selbst, so findet
auch in der Anschauungsweise der Wissenschaft ein ewiger Fort-
schritt statt, ihr geistiger Horizont und damit der Kreis des
Möglichen erweitert sich, sei es durch ihr eignes Verdienst, rein
aus eignem Antriebe, sei es durch die Macht der Thatsache, die
ihr das bisher für juristisch unmöglich Gehaltene aufdrängt und
ihr damit den Anlaß gibt, das Gebiet des theoretisch Möglichen

517) Die Zahlung des Bürgen hat die Bedeutung eines Kaufs der For-
derung, siehe darüber die L. 76 de solut. (46. 3).
518) z. B. die traditio in incertam personam. Die ältere Jurisprudenz
konnte sich den jactus missilium nur als Dereliction von der einen und Occu-
pation von der andern Seite construiren.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
die Obligation durch Zahlung untergeht, ſo muß es als ein
juriſtiſches Unding erſcheinen, daß der Gläubiger nach erhalte-
ner Zahlung die Klage noch cediren kann. Nichts deſto weniger
erkennt das Recht eine Ceſſion des Gläubigers an den Bürgen
nach geleiſteter Zahlung als möglich an. Auch hier kann die
Wiſſenſchaft ſich nicht dabei beruhigen, daß es einmal ſo Rech-
tens ſei, ſondern entweder muß ſie jenen Satz fallen laſſen, oder
aber, wenn ſie dies nicht will oder kann, einen Geſichtspunkt
aufſuchen, der den Widerſpruch beſeitigt, ihn als einen bloß
ſcheinbaren hinſtellt, und dies iſt den römiſchen Juriſten in einer
höchſt ungezwungenen, überzeugenden Weiſe gelungen.517)

Wir können der Anforderung, um die es ſich bei unſerm
zweiten Geſetz hier handelt, den Ausdruck geben: die Wiſſen-
ſchaft darf keine juriſtiſche Unmöglichkeiten ſtatuiren.
Der Begriff der juriſtiſchen Möglichkeit und Unmöglichkeit ſcheint
nun auf den erſten Blick ein abſoluter zu ſein, in der That aber
iſt er ein relativer. Wie vieles würde den römiſchen Juriſten
als juriſtiſch unmöglich erſcheinen, was heutzutage als juriſtiſch
möglich gilt (z. B. Forderungen, die dem jedesmaligen Innehaber
eines Papiers zuſtehen, Indoſſamente in blanco u. ſ. w.), und
an wie manchem nehmen wiederum ſie keinen Anſtoß, worin die
älteren Juriſten geradezu einen Verſtoß gegen jede juriſtiſche
Logik erblickt haben würden!518) Wie im Recht ſelbſt, ſo findet
auch in der Anſchauungsweiſe der Wiſſenſchaft ein ewiger Fort-
ſchritt ſtatt, ihr geiſtiger Horizont und damit der Kreis des
Möglichen erweitert ſich, ſei es durch ihr eignes Verdienſt, rein
aus eignem Antriebe, ſei es durch die Macht der Thatſache, die
ihr das bisher für juriſtiſch unmöglich Gehaltene aufdrängt und
ihr damit den Anlaß gibt, das Gebiet des theoretiſch Möglichen

517) Die Zahlung des Bürgen hat die Bedeutung eines Kaufs der For-
derung, ſiehe darüber die L. 76 de solut. (46. 3).
518) z. B. die traditio in incertam personam. Die ältere Jurisprudenz
konnte ſich den jactus missilium nur als Dereliction von der einen und Occu-
pation von der andern Seite conſtruiren.
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[402/0108] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. die Obligation durch Zahlung untergeht, ſo muß es als ein juriſtiſches Unding erſcheinen, daß der Gläubiger nach erhalte- ner Zahlung die Klage noch cediren kann. Nichts deſto weniger erkennt das Recht eine Ceſſion des Gläubigers an den Bürgen nach geleiſteter Zahlung als möglich an. Auch hier kann die Wiſſenſchaft ſich nicht dabei beruhigen, daß es einmal ſo Rech- tens ſei, ſondern entweder muß ſie jenen Satz fallen laſſen, oder aber, wenn ſie dies nicht will oder kann, einen Geſichtspunkt aufſuchen, der den Widerſpruch beſeitigt, ihn als einen bloß ſcheinbaren hinſtellt, und dies iſt den römiſchen Juriſten in einer höchſt ungezwungenen, überzeugenden Weiſe gelungen. 517) Wir können der Anforderung, um die es ſich bei unſerm zweiten Geſetz hier handelt, den Ausdruck geben: die Wiſſen- ſchaft darf keine juriſtiſche Unmöglichkeiten ſtatuiren. Der Begriff der juriſtiſchen Möglichkeit und Unmöglichkeit ſcheint nun auf den erſten Blick ein abſoluter zu ſein, in der That aber iſt er ein relativer. Wie vieles würde den römiſchen Juriſten als juriſtiſch unmöglich erſcheinen, was heutzutage als juriſtiſch möglich gilt (z. B. Forderungen, die dem jedesmaligen Innehaber eines Papiers zuſtehen, Indoſſamente in blanco u. ſ. w.), und an wie manchem nehmen wiederum ſie keinen Anſtoß, worin die älteren Juriſten geradezu einen Verſtoß gegen jede juriſtiſche Logik erblickt haben würden! 518) Wie im Recht ſelbſt, ſo findet auch in der Anſchauungsweiſe der Wiſſenſchaft ein ewiger Fort- ſchritt ſtatt, ihr geiſtiger Horizont und damit der Kreis des Möglichen erweitert ſich, ſei es durch ihr eignes Verdienſt, rein aus eignem Antriebe, ſei es durch die Macht der Thatſache, die ihr das bisher für juriſtiſch unmöglich Gehaltene aufdrängt und ihr damit den Anlaß gibt, das Gebiet des theoretiſch Möglichen 517) Die Zahlung des Bürgen hat die Bedeutung eines Kaufs der For- derung, ſiehe darüber die L. 76 de solut. (46. 3). 518) z. B. die traditio in incertam personam. Die ältere Jurisprudenz konnte ſich den jactus missilium nur als Dereliction von der einen und Occu- pation von der andern Seite conſtruiren.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/108>, abgerufen am 22.11.2024.