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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die jurist. Technik. A. Im allgem.
baupolizeilichen Rücksichten versagte das ältere Recht dem Eigen-
thümer die Vindication des Baumaterials, das ein Anderer in
sein Haus verbaut hatte, und verwies ihn auf eine persönliche
Entschädigungsklage; nach Trennung des Materials z. B.
durch Zusammenstürzen des Hauses stand jedoch der Vindication
nichts im Wege. Dieser Thatsache konnte man einen verschie-
denen juristischen Ausdruck geben, nämlich den, daß das Eigen-
thum untergehe, späterhin aber wieder aufwache, oder aber,
daß zwar das Eigenthum fortdauere, allein nur nicht geltend
gemacht werden könne, so lange die Verbindung dauere. Letz-
tere Vorstellungsweise verdiente vor ersterer offenbar den Vor-
zug; denn daß das Eigenthum durch bloßes Einbauen verloren
gehen sollte, war eben so anstößig, als daß es einmal unter-
gegangen späterhin wieder aufwachen sollte. Angenommen, es
hätte nun das Gesetz diese Vorstellungsweise adoptirt gehabt,
so wäre meiner Ansicht nach die Jurisprudenz durchaus berech-
tigt gewesen, dieselbe als eine unvollkommene Construction durch
die zweite zu ersetzen. Beide führten praktisch ganz zu denselben
Resultaten, sie waren also nichts als juristische Constructionen,
Versuche, die praktischen Sätze rationell zu erklären.

2. Das Gesetz des Nichtwiderspruchs oder der syste-
matischen Einheit. Ich brauche kaum zu bemerken, daß es sich
hier nicht um Widersprüche des Gesetzgebers, sondern um Wi-
dersprüche der Wissenschaft mit sich selbst handelt. Die Juris-
prudenz ist wie an das Gesetz, so auch an sich selbst gebun-
den, sie darf bei ihren Constructionen nicht mit sich selbst, mit
den Begriffen, Lehrsätzen, die sie anderwärts aufgestellt hat, in
Widerspruch treten, ihre Constructionen müssen stimmen, sowohl
in sich, als unter einander. Ein Begriff duldet keine Aus-
nahme, so wenig wie ein Körper sich verläugnen, ausnahms-
weise etwas andres sein kann, als er ist. Läßt sich also eine
Lage des Körpers auffinden, die mit dem aufgestellten Begriff
unverträglich ist, die ihn, so zu sagen, zum Schweigen bringt,
so fehlt ihm die wissenschaftliche Lebensfähigkeit und das Recht

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem.
baupolizeilichen Rückſichten verſagte das ältere Recht dem Eigen-
thümer die Vindication des Baumaterials, das ein Anderer in
ſein Haus verbaut hatte, und verwies ihn auf eine perſönliche
Entſchädigungsklage; nach Trennung des Materials z. B.
durch Zuſammenſtürzen des Hauſes ſtand jedoch der Vindication
nichts im Wege. Dieſer Thatſache konnte man einen verſchie-
denen juriſtiſchen Ausdruck geben, nämlich den, daß das Eigen-
thum untergehe, ſpäterhin aber wieder aufwache, oder aber,
daß zwar das Eigenthum fortdauere, allein nur nicht geltend
gemacht werden könne, ſo lange die Verbindung dauere. Letz-
tere Vorſtellungsweiſe verdiente vor erſterer offenbar den Vor-
zug; denn daß das Eigenthum durch bloßes Einbauen verloren
gehen ſollte, war eben ſo anſtößig, als daß es einmal unter-
gegangen ſpäterhin wieder aufwachen ſollte. Angenommen, es
hätte nun das Geſetz dieſe Vorſtellungsweiſe adoptirt gehabt,
ſo wäre meiner Anſicht nach die Jurisprudenz durchaus berech-
tigt geweſen, dieſelbe als eine unvollkommene Conſtruction durch
die zweite zu erſetzen. Beide führten praktiſch ganz zu denſelben
Reſultaten, ſie waren alſo nichts als juriſtiſche Conſtructionen,
Verſuche, die praktiſchen Sätze rationell zu erklären.

2. Das Geſetz des Nichtwiderſpruchs oder der ſyſte-
matiſchen Einheit. Ich brauche kaum zu bemerken, daß es ſich
hier nicht um Widerſprüche des Geſetzgebers, ſondern um Wi-
derſprüche der Wiſſenſchaft mit ſich ſelbſt handelt. Die Juris-
prudenz iſt wie an das Geſetz, ſo auch an ſich ſelbſt gebun-
den, ſie darf bei ihren Conſtructionen nicht mit ſich ſelbſt, mit
den Begriffen, Lehrſätzen, die ſie anderwärts aufgeſtellt hat, in
Widerſpruch treten, ihre Conſtructionen müſſen ſtimmen, ſowohl
in ſich, als unter einander. Ein Begriff duldet keine Aus-
nahme, ſo wenig wie ein Körper ſich verläugnen, ausnahms-
weiſe etwas andres ſein kann, als er iſt. Läßt ſich alſo eine
Lage des Körpers auffinden, die mit dem aufgeſtellten Begriff
unverträglich iſt, die ihn, ſo zu ſagen, zum Schweigen bringt,
ſo fehlt ihm die wiſſenſchaftliche Lebensfähigkeit und das Recht

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[400/0106] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die juriſt. Technik. A. Im allgem. baupolizeilichen Rückſichten verſagte das ältere Recht dem Eigen- thümer die Vindication des Baumaterials, das ein Anderer in ſein Haus verbaut hatte, und verwies ihn auf eine perſönliche Entſchädigungsklage; nach Trennung des Materials z. B. durch Zuſammenſtürzen des Hauſes ſtand jedoch der Vindication nichts im Wege. Dieſer Thatſache konnte man einen verſchie- denen juriſtiſchen Ausdruck geben, nämlich den, daß das Eigen- thum untergehe, ſpäterhin aber wieder aufwache, oder aber, daß zwar das Eigenthum fortdauere, allein nur nicht geltend gemacht werden könne, ſo lange die Verbindung dauere. Letz- tere Vorſtellungsweiſe verdiente vor erſterer offenbar den Vor- zug; denn daß das Eigenthum durch bloßes Einbauen verloren gehen ſollte, war eben ſo anſtößig, als daß es einmal unter- gegangen ſpäterhin wieder aufwachen ſollte. Angenommen, es hätte nun das Geſetz dieſe Vorſtellungsweiſe adoptirt gehabt, ſo wäre meiner Anſicht nach die Jurisprudenz durchaus berech- tigt geweſen, dieſelbe als eine unvollkommene Conſtruction durch die zweite zu erſetzen. Beide führten praktiſch ganz zu denſelben Reſultaten, ſie waren alſo nichts als juriſtiſche Conſtructionen, Verſuche, die praktiſchen Sätze rationell zu erklären. 2. Das Geſetz des Nichtwiderſpruchs oder der ſyſte- matiſchen Einheit. Ich brauche kaum zu bemerken, daß es ſich hier nicht um Widerſprüche des Geſetzgebers, ſondern um Wi- derſprüche der Wiſſenſchaft mit ſich ſelbſt handelt. Die Juris- prudenz iſt wie an das Geſetz, ſo auch an ſich ſelbſt gebun- den, ſie darf bei ihren Conſtructionen nicht mit ſich ſelbſt, mit den Begriffen, Lehrſätzen, die ſie anderwärts aufgeſtellt hat, in Widerſpruch treten, ihre Conſtructionen müſſen ſtimmen, ſowohl in ſich, als unter einander. Ein Begriff duldet keine Aus- nahme, ſo wenig wie ein Körper ſich verläugnen, ausnahms- weiſe etwas andres ſein kann, als er iſt. Läßt ſich alſo eine Lage des Körpers auffinden, die mit dem aufgeſtellten Begriff unverträglich iſt, die ihn, ſo zu ſagen, zum Schweigen bringt, ſo fehlt ihm die wiſſenſchaftliche Lebensfähigkeit und das Recht

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0202_1858/106>, abgerufen am 22.11.2024.