Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

C. Histor. Bedeutung des Systems. -- Reife zur Freiheit. §. 36.
lichkeit in Rom in einer Weise praktisch anerkannt und geschützt
war, wie sonst nirgends, daß die Basis der ganzen persönlichen
Existenz, das Recht, eine felsenfeste war, und jeder Römer sich
innerhalb des Fleckes Erde, der ihm hier beschieden, absolut
sicher und als unumschränkter Gebieter betrachten durfte -- das,
meine ich, war das Werthvollste und Schönste, dessen ein Rö-
mer sich rühmen konnte.

Der Stolz, den die Freiheit verleiht, ist ein durchaus be-
rechtigter, denn er ist nicht ein Stolz auf den bloßen Besitz oder
Genuß derselben, sondern auf das eigne Verdienst. Die Frei-
heit ist bekanntlich kein Geschenk der Götter, sondern ein Gut,
das jedes Volk sich selbst verdankt und das nur bei einem ge-
wissen Maß moralischer Kraft und Würdigkeit gedeiht. Mit
der bloßen Liebe zur Freiheit ist es nicht gethan; selbst wenn
diese Liebe, wie es nicht anders sein kann, eine werkthätige und
opferfähige ist, so gesellt sich noch ein anderes wesentliches Re-
quisit hinzu -- die Kunst, die Freiheit zu gebrauchen, und diese
Kunst ist eine sehr schwere. Denn das erste Gebot derselben ist
Mäßigung. Kein Gut reizt so sehr zur Unmäßigkeit und geht
so leicht und so unausbleiblich dadurch verloren, als gerade das
höchste, die Freiheit. Der Begriff der politischen Reife und
Unreife der Völker ist unserer heutigen Zeit sehr geläufig, aber
man setzt denselben viel zu sehr in die intellektuelle Bildungs-
stufe der Völker und viel zu wenig in die moralische Qualifica-
tion derselben. Handelte es sich bloß um ein intellektuelles Ver-
ständniß der Freiheit, so müßten die gebildetsten Völker die
höchste Reife zur Freiheit besitzen, während umgekehrt das Stei-
gen der Cultur und Civilisation nicht selten mit der Abnahme
jener Reife verbunden ist, wie z. B. in Rom selbst.

Diese moralische Qualifikation des ältern römischen Volks
zur Freiheit kann ich nun nicht genug betonen. Unser ganzes
System stand und fiel mit ihr:
Moribus antiquis stat res Romana virisque.
Der Verfall der römischen Sittlichkeit war zugleich der Ver-

C. Hiſtor. Bedeutung des Syſtems. — Reife zur Freiheit. §. 36.
lichkeit in Rom in einer Weiſe praktiſch anerkannt und geſchützt
war, wie ſonſt nirgends, daß die Baſis der ganzen perſönlichen
Exiſtenz, das Recht, eine felſenfeſte war, und jeder Römer ſich
innerhalb des Fleckes Erde, der ihm hier beſchieden, abſolut
ſicher und als unumſchränkter Gebieter betrachten durfte — das,
meine ich, war das Werthvollſte und Schönſte, deſſen ein Rö-
mer ſich rühmen konnte.

Der Stolz, den die Freiheit verleiht, iſt ein durchaus be-
rechtigter, denn er iſt nicht ein Stolz auf den bloßen Beſitz oder
Genuß derſelben, ſondern auf das eigne Verdienſt. Die Frei-
heit iſt bekanntlich kein Geſchenk der Götter, ſondern ein Gut,
das jedes Volk ſich ſelbſt verdankt und das nur bei einem ge-
wiſſen Maß moraliſcher Kraft und Würdigkeit gedeiht. Mit
der bloßen Liebe zur Freiheit iſt es nicht gethan; ſelbſt wenn
dieſe Liebe, wie es nicht anders ſein kann, eine werkthätige und
opferfähige iſt, ſo geſellt ſich noch ein anderes weſentliches Re-
quiſit hinzu — die Kunſt, die Freiheit zu gebrauchen, und dieſe
Kunſt iſt eine ſehr ſchwere. Denn das erſte Gebot derſelben iſt
Mäßigung. Kein Gut reizt ſo ſehr zur Unmäßigkeit und geht
ſo leicht und ſo unausbleiblich dadurch verloren, als gerade das
höchſte, die Freiheit. Der Begriff der politiſchen Reife und
Unreife der Völker iſt unſerer heutigen Zeit ſehr geläufig, aber
man ſetzt denſelben viel zu ſehr in die intellektuelle Bildungs-
ſtufe der Völker und viel zu wenig in die moraliſche Qualifica-
tion derſelben. Handelte es ſich bloß um ein intellektuelles Ver-
ſtändniß der Freiheit, ſo müßten die gebildetſten Völker die
höchſte Reife zur Freiheit beſitzen, während umgekehrt das Stei-
gen der Cultur und Civiliſation nicht ſelten mit der Abnahme
jener Reife verbunden iſt, wie z. B. in Rom ſelbſt.

Dieſe moraliſche Qualifikation des ältern römiſchen Volks
zur Freiheit kann ich nun nicht genug betonen. Unſer ganzes
Syſtem ſtand und fiel mit ihr:
Moribus antiquis stat res Romana virisque.
Der Verfall der römiſchen Sittlichkeit war zugleich der Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0333" n="319"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">C.</hi> Hi&#x017F;tor. Bedeutung des Sy&#x017F;tems. &#x2014; Reife zur Freiheit. §. 36.</fw><lb/>
lichkeit in Rom in einer Wei&#x017F;e prakti&#x017F;ch anerkannt und ge&#x017F;chützt<lb/>
war, wie &#x017F;on&#x017F;t nirgends, daß die Ba&#x017F;is der ganzen per&#x017F;önlichen<lb/>
Exi&#x017F;tenz, das Recht, eine fel&#x017F;enfe&#x017F;te war, und jeder Römer &#x017F;ich<lb/>
innerhalb des Fleckes Erde, der ihm hier be&#x017F;chieden, ab&#x017F;olut<lb/>
&#x017F;icher und als unum&#x017F;chränkter Gebieter betrachten durfte &#x2014; das,<lb/>
meine ich, war das Werthvoll&#x017F;te und Schön&#x017F;te, de&#x017F;&#x017F;en ein Rö-<lb/>
mer &#x017F;ich rühmen konnte.</p><lb/>
                    <p>Der Stolz, den die Freiheit verleiht, i&#x017F;t ein durchaus be-<lb/>
rechtigter, denn er i&#x017F;t nicht ein Stolz auf den bloßen Be&#x017F;itz oder<lb/>
Genuß der&#x017F;elben, &#x017F;ondern auf das eigne Verdien&#x017F;t. Die Frei-<lb/>
heit i&#x017F;t bekanntlich kein Ge&#x017F;chenk der Götter, &#x017F;ondern ein Gut,<lb/>
das jedes Volk &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t verdankt und das nur bei einem ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Maß morali&#x017F;cher Kraft und Würdigkeit gedeiht. Mit<lb/>
der bloßen Liebe zur Freiheit i&#x017F;t es nicht gethan; &#x017F;elb&#x017F;t wenn<lb/>
die&#x017F;e Liebe, wie es nicht anders &#x017F;ein kann, eine werkthätige und<lb/>
opferfähige i&#x017F;t, &#x017F;o ge&#x017F;ellt &#x017F;ich noch ein anderes we&#x017F;entliches Re-<lb/>
qui&#x017F;it hinzu &#x2014; die Kun&#x017F;t, die Freiheit zu gebrauchen, und die&#x017F;e<lb/>
Kun&#x017F;t i&#x017F;t eine &#x017F;ehr &#x017F;chwere. Denn das er&#x017F;te Gebot der&#x017F;elben i&#x017F;t<lb/>
Mäßigung. Kein Gut reizt &#x017F;o &#x017F;ehr zur Unmäßigkeit und geht<lb/>
&#x017F;o leicht und &#x017F;o unausbleiblich dadurch verloren, als gerade das<lb/>
höch&#x017F;te, die Freiheit. Der Begriff der politi&#x017F;chen Reife und<lb/>
Unreife der Völker i&#x017F;t un&#x017F;erer heutigen Zeit &#x017F;ehr geläufig, aber<lb/>
man &#x017F;etzt den&#x017F;elben viel zu &#x017F;ehr in die intellektuelle Bildungs-<lb/>
&#x017F;tufe der Völker und viel zu wenig in die morali&#x017F;che Qualifica-<lb/>
tion der&#x017F;elben. Handelte es &#x017F;ich bloß um ein intellektuelles Ver-<lb/>
&#x017F;tändniß der Freiheit, &#x017F;o müßten die gebildet&#x017F;ten Völker die<lb/>
höch&#x017F;te Reife zur Freiheit be&#x017F;itzen, während umgekehrt das Stei-<lb/>
gen der Cultur und Civili&#x017F;ation nicht &#x017F;elten mit der Abnahme<lb/>
jener Reife verbunden i&#x017F;t, wie z. B. in Rom &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
                    <p>Die&#x017F;e morali&#x017F;che Qualifikation des ältern römi&#x017F;chen Volks<lb/>
zur Freiheit kann ich nun nicht genug betonen. Un&#x017F;er ganzes<lb/>
Sy&#x017F;tem &#x017F;tand und fiel mit ihr:<lb/><hi rendition="#c"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Moribus antiquis stat res Romana virisque</hi>.</hi></hi><lb/>
Der Verfall der römi&#x017F;chen Sittlichkeit war zugleich der Ver-<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0333] C. Hiſtor. Bedeutung des Syſtems. — Reife zur Freiheit. §. 36. lichkeit in Rom in einer Weiſe praktiſch anerkannt und geſchützt war, wie ſonſt nirgends, daß die Baſis der ganzen perſönlichen Exiſtenz, das Recht, eine felſenfeſte war, und jeder Römer ſich innerhalb des Fleckes Erde, der ihm hier beſchieden, abſolut ſicher und als unumſchränkter Gebieter betrachten durfte — das, meine ich, war das Werthvollſte und Schönſte, deſſen ein Rö- mer ſich rühmen konnte. Der Stolz, den die Freiheit verleiht, iſt ein durchaus be- rechtigter, denn er iſt nicht ein Stolz auf den bloßen Beſitz oder Genuß derſelben, ſondern auf das eigne Verdienſt. Die Frei- heit iſt bekanntlich kein Geſchenk der Götter, ſondern ein Gut, das jedes Volk ſich ſelbſt verdankt und das nur bei einem ge- wiſſen Maß moraliſcher Kraft und Würdigkeit gedeiht. Mit der bloßen Liebe zur Freiheit iſt es nicht gethan; ſelbſt wenn dieſe Liebe, wie es nicht anders ſein kann, eine werkthätige und opferfähige iſt, ſo geſellt ſich noch ein anderes weſentliches Re- quiſit hinzu — die Kunſt, die Freiheit zu gebrauchen, und dieſe Kunſt iſt eine ſehr ſchwere. Denn das erſte Gebot derſelben iſt Mäßigung. Kein Gut reizt ſo ſehr zur Unmäßigkeit und geht ſo leicht und ſo unausbleiblich dadurch verloren, als gerade das höchſte, die Freiheit. Der Begriff der politiſchen Reife und Unreife der Völker iſt unſerer heutigen Zeit ſehr geläufig, aber man ſetzt denſelben viel zu ſehr in die intellektuelle Bildungs- ſtufe der Völker und viel zu wenig in die moraliſche Qualifica- tion derſelben. Handelte es ſich bloß um ein intellektuelles Ver- ſtändniß der Freiheit, ſo müßten die gebildetſten Völker die höchſte Reife zur Freiheit beſitzen, während umgekehrt das Stei- gen der Cultur und Civiliſation nicht ſelten mit der Abnahme jener Reife verbunden iſt, wie z. B. in Rom ſelbſt. Dieſe moraliſche Qualifikation des ältern römiſchen Volks zur Freiheit kann ich nun nicht genug betonen. Unſer ganzes Syſtem ſtand und fiel mit ihr: Moribus antiquis stat res Romana virisque. Der Verfall der römiſchen Sittlichkeit war zugleich der Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/333
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/333>, abgerufen am 08.05.2024.